Thememorygame
Wer sind wir in diesem Moment?
Die Lektüre des Parascha Pinchas in dieser Woche machte mich auf die moralische und sachliche Dualität unseres Urteils aufmerksam: Pinchas wird für einen Mord mit der Ehre des ewigen Priestertums für seine Familie belohnt. In der heutigen Welt können wir uns mit dieser Tatsache nicht identifizieren. Die Töchter von Tzelofchad profitieren vom Erbe ihres Vaters. Sie suchen Moses, der Gott um Rat bittet. Und Gott findet es gerecht, dass sie das Erbe erhalten, wenn kein männlicher Erbe vorhanden ist. Damit hat Gott dieses Gesetz geschaffen, mit dem wir uns heute sehr gut identifizieren können. Ein Zeichen dafür, dass unsere Herangehensweise an den Text der Thora an unsere Zeit und unseren Raum gebunden ist. Ein Jude, der diese Parascha im Jahr 230 in einer geschlossenen und machohaften Kultur las, hätte vielleicht das Gegenteil von dem gedacht, was wir heute hier denken: Die Rechte der Töchter von Tzelofchad sind eine Beleidigung und...
Liebe liegt in der Luft. Was wir anziehen und was wir ablehnen
Unser Rio, Brasilien, die Welt, wir haben uns in den letzten Jahren verändert. Unsere familiären Beziehungen haben sich erweitert, unsere Beziehungen verändert, unsere Umgebung umgestaltet. Die (westliche) Menschheit erlaubt sich eine tolerantere und offenere Haltung gegenüber Minderheiten, Bräuchen und Kulturen. Wir möchten alle einbeziehen und stellen manchmal unsere Überzeugungen und unser Wissen über unsere Gesellschaft in Frage, die sich über Jahrzehnte, Jahrhunderte oder Jahrtausende herauskristallisiert haben. Aber sind wir heute wirklich so offen, im Gegensatz zu der Welt, die uns hinterlassen wurde? Unsere Erfahrung der Vergangenheit ist die Lesart der Historiker dessen, was einst Realität war und was wir durch unsere aktuelle Perspektive filtern. So konstituieren wir uns als freie Männer und Frauen (Weltmenschen), bewusste Bürger (Freidenker), liberale Juden. Die Renaissance und die Aufklärung zwangen uns, die Welt mit den Augen der Vernunft zu sehen. Der Schleier der Empfindungen, der Magie, des Aberglaubens und des Glaubens wurde durch die neue...
Leben und Werk des Rabbiners Dr. Henrique Lemle
Der Lebensweg des rabbiners dr. Lemle ist ein Paradebeispiel für Verfolgung, Zwangsemigration und aufbau einer neuen existenz in einem fremden Umfeld. die ersten neun Jahre seines wirkens, beginnend 1933 mit seiner einsetzung als rabbiner in mannheim bis zur Gründung der ari in rio de Janeiro, verdeutlichen seine große Begabung und seinen Pioniergeist.
Leben und Werk des Rabbiners Dr. Henrique Lemle
Der Lebensweg des rabbiners dr. Lemle ist ein Paradebeispiel für Verfolgung, Zwangsemigration und aufbau einer neuen existenz in einem fremden Umfeld. die ersten neun Jahre seines wirkens, beginnend 1933 mit seiner einsetzung als rabbiner in mannheim bis zur Gründung der ari in rio de Janeiro, verdeutlichen seine große Begabung und seinen Pioniergeist.
Mein Freund, Rabbiner Dr. Henrique Lemle
Ich habe Dr. Lemle nicht getroffen. Als er 1978 starb, war ich acht Jahre alt und meine Familie besuchte die ARI-Synagoge nicht. Ich war Schüler einer linken Schule, lernte dort Jiddisch und besuchte Hashomer Hatzair. Ich kannte die Geschichten aus der Bibel als historische Berichte und folkloristische Ereignisse. Die jüdischen Feiertage waren Gelegenheiten, sich mit der Familie zu treffen und Köstlichkeiten nach Rezepten aus einer fernen Vergangenheit Osteuropas zu geniessen. Gott oder Religion waren nie ein grosses Thema. Aber Dr. Lemle – so hätte ich ihn angesprochen, wie alle anderen, die seine Bekanntschaft genossen haben – hat mein Leben verändert! Der Zugang zur Philosophie und den Idealen des Reformjudentums durch seine geistlichen und weltlichen Leiter, Gemeindemitglieder und Aktivitäten, als ich mich in den 1980er Jahren an ARI wandte, faszinierte mich. Lemles Vermächtnis – ich nenne ihn Lemle in sehr vertrauter Weise in meiner Forschung – geht über seine Zeitgenossen und...
Liebe liegt in der Luft. Was wir anziehen und was wir ablehnen
Unser Rio, Brasilien, die Welt, wir haben uns in den letzten Jahren verändert. Unsere familiären Beziehungen haben sich erweitert, unsere Beziehungen verändert, unsere Umgebung umgestaltet. Die (westliche) Menschheit erlaubt sich eine tolerantere und offenere Haltung gegenüber Minderheiten, Bräuchen und Kulturen. Wir möchten alle einbeziehen und stellen manchmal unsere Überzeugungen und unser Wissen über unsere Gesellschaft in Frage, die sich über Jahrzehnte, Jahrhunderte oder Jahrtausende herauskristallisiert haben. Aber sind wir heute wirklich so offen, im Gegensatz zu der Welt, die uns hinterlassen wurde? Unsere Erfahrung der Vergangenheit ist die Lesart der Historiker dessen, was einst Realität war und was wir durch unsere aktuelle Perspektive filtern. So konstituieren wir uns als freie Männer und Frauen (Weltmenschen), bewusste Bürger (Freidenker), liberale Juden. Die Renaissance und die Aufklärung zwangen uns, die Welt mit den Augen der Vernunft zu sehen. Der Schleier der Empfindungen, der Magie, des Aberglaubens und des Glaubens wurde durch die neue...
Integrität und Integration: Juden in der brasilianischen Gesellschaft
Bedeutsam, wenn auch ungenau, sind die Jahre der jüdischen Präsenz in Brasilien. Sie können je nach gewählter Zählung variieren: ob seit der Zeit der Großen Schifffahrt, oder aufgrund der Inquisition auf der Iberischen Halbinsel, oder aufgrund der marokkanischen Einwanderung, oder wegen der zaristischen, nationalsozialistischen, kommunistischen Verfolgungen … oder sogar als sie von ihren Heimaten abreisten auf der Suche nach einer erfolgreichen und sicheren Zukunft für sich und ihre Nachkommen. Auch Juden, die seit jeher in der Alten Welt unterwegs waren, fanden ihren Weg in die Neue Welt. Die Anwesenheit von Juden in Brasilien war oft unerwünscht und wurde in gewisser Weise aus Gründen entkräftet, die nichts mit der Art und Weise zu tun hatten, wie sie pragmatisch mit dem Land umgingen: Kinder großgezogen, die Sprache gelernt, Gewohnheiten übernommen, Institutionen für das Gemeinwohl und Unternehmen gegründet, die die Gegenwart lebensfähig machen und die Zukunft säen. Von dem österreichischen jüdischen Schriftsteller Stefan...
Mein Freund, Rabbiner Dr. Henrique Lemle
Ich habe Dr. Lemle nicht getroffen. Als er 1978 starb, war ich acht Jahre alt und meine Familie besuchte die ARI-Synagoge nicht. Ich war Schüler einer linken Schule, lernte dort Jiddisch und besuchte Hashomer Hatzair. Ich kannte die Geschichten aus der Bibel als historische Berichte und folkloristische Ereignisse. Die jüdischen Feiertage waren Gelegenheiten, sich mit der Familie zu treffen und Köstlichkeiten nach Rezepten aus einer fernen Vergangenheit Osteuropas zu geniessen. Gott oder Religion waren nie ein grosses Thema. Aber Dr. Lemle – so hätte ich ihn angesprochen, wie alle anderen, die seine Bekanntschaft genossen haben – hat mein Leben verändert! Der Zugang zur Philosophie und den Idealen des Reformjudentums durch seine geistlichen und weltlichen Leiter, Gemeindemitglieder und Aktivitäten, als ich mich in den 1980er Jahren an ARI wandte, faszinierte mich. Lemles Vermächtnis – ich nenne ihn Lemle in sehr vertrauter Weise in meiner Forschung – geht über seine Zeitgenossen und...
Digitale Erfassung der Historischen Mitgliederkartei der ARI
Heritage and History (H&H) und die Associação Religiosa Israelita do Rio de Janeiro (ARI) unternehmen in Zusammenarbeit die digitale Erfassung der Historischen Mitgliederkartei der deutsch-jüdischen Gemeinde von Rio de Janeiro aus den 1940er Jahren. Durch die Digitalisierung dieser Kartei entsteht eine Sammlung an Informationen über eine bestimmte Gruppe, deren Geschichte im Rahmen der Immigrationsbewegungen der jüdischen Bevölkerung im 20. Jahrhundert noch nicht angemessen ausgewertet und erforscht worden ist. Die Datenerfassung von Individuen und demzufolge die Erstellung ihrer Biografien ermöglichen besseres Verständnis ihrer eigenen Schicksale und derer Familienangehörigen, aber gleichzeitig auch die Erkenntnis über Schicksale bestimmter Bevölkerungsgruppen.
Integrität und Integration: Juden in der brasilianischen Gesellschaft
Bedeutsam, wenn auch ungenau, sind die Jahre der jüdischen Präsenz in Brasilien. Sie können je nach gewählter Zählung variieren: ob seit der Zeit der Großen Schifffahrt, oder aufgrund der Inquisition auf der Iberischen Halbinsel, oder aufgrund der marokkanischen Einwanderung, oder wegen der zaristischen, nationalsozialistischen, kommunistischen Verfolgungen … oder sogar als sie von ihren Heimaten abreisten auf der Suche nach einer erfolgreichen und sicheren Zukunft für sich und ihre Nachkommen. Auch Juden, die seit jeher in der Alten Welt unterwegs waren, fanden ihren Weg in die Neue Welt. Die Anwesenheit von Juden in Brasilien war oft unerwünscht und wurde in gewisser Weise aus Gründen entkräftet, die nichts mit der Art und Weise zu tun hatten, wie sie pragmatisch mit dem Land umgingen: Kinder großgezogen, die Sprache gelernt, Gewohnheiten übernommen, Institutionen für das Gemeinwohl und Unternehmen gegründet, die die Gegenwart lebensfähig machen und die Zukunft säen. Von dem österreichischen jüdischen Schriftsteller Stefan...
Die Nacht der gebrochenen Herzen und der zerbrochenen Gläser
Erst ab dem 19. Jahrhundert genossen Juden in einigen Herzogtümern und Fürstentümern, die den Bund Deutscher Nationen bildeten, Bürgerrechte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte Napoleon Bonaparte in diesem Staatenkonglomerat in den von ihm eroberten Gebieten eine Reihe gleicher Rechte für alle ein, die mit der deutschen Einigung 1871 beibehalten und 1918 mit der Weimarer Republik ratifiziert wurden. Um die Denkweise und Mentalität vieler in Deutschland lebender Juden und den Prozess zu verstehen, der in der Reichspogromnacht (Kristallnacht) gipfelte, ist es wichtig, einige Konzepte über die Lebensweise in Deutschland zu erläutern und Ereignisse der ARI-Gemeinschaft und ihrer Mitglieder zu rekapitulieren und diese in Bezug zu historischen Ereignissen zusetzen. Die Zugehörigkeit zu einer Nation hatte für die Juden im 19. und frühen 20. Jahrhundert viele Vorteile. Die starke Identifikation mit Aschkenas, dem hebräischen Namen für die Region Mitteleuropas, in der sich heute Deutschland und die umliegenden Gebiete befinden, war nicht umsonst....
Der Kidduschbecher
Die Präsenz des Bechers unter den Gegenständen von Judaika beruht ausschließlich auf der Tatsache, dass er der Behälter ist, in dem sich Wein befindet. Der Wein wurde zum ersten Mal im Talmud in einer längeren Diskussion über die Reihenfolge des Segens über die Früchte des Weinstocks erwähnt und von der Zeit blieb der Brauch, ihn nach den Gebeten zu trinken. Erst unter dem Einfluss…
Juden in Brasilien: Einwanderung und Vielfalt
Angesichts der Bedeutung der Erweiterung der Museumssammlungen, die die verschiedenen Gesichter der brasilianischen historischen Erfahrung repräsentieren, zielt das Projekt „Juden in Brasilien: Einwanderung und Vielfalt“ darauf ab, einen kritischen Blick auf die Sammlung des Historischen Nationalmuseums (MHN, Museu Histórico Nacional) aus der Sicht der jüdischen Präsenz in Brasilien zu entwickeln und eine Sammlung dreidimensionaler Objekte aufzubauen, die die materielle Kultur der Einwanderungserfahrung und den Aufbauprozess jüdischer Gemeinden in Brasilien wertschätzen. Aufgrund ihrer ethnischen Vielfalt und Herkunft prägen diese Gemeinschaften die brasilianische Gesellschaft kulturell und historisch und stellen ein wichtiges Element des Brasilidade (Brasilianertums) dar, das in der aktuellen MHN-Sammlung kaum vertreten ist. Das MHN wurde 1922 im Rahmen der Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der brasilianischen Unabhängigkeit gegründet. Seine ersten Sammlungen zeigten eine Art Geschichtslesung, die militärische, religiöse und nationalstaatliche Errungenschaften und die seiner Regierungsvertreter würdigte. In den 1980er Jahren wurden die Auswahlkriterien für Sammlungen im Zuge der Veränderungen im musealen...
Unsere Pflicht zum Erinnern und unser Engagement zur Erinnerungskultur
Sie können Menschen am Erev (Vorabend) Pessach um einen Tisch versammeln, Sie können einen Teller mit allen symbolischen Speisen in die Mitte des Tisches stellen, aus der Haggada (Erzählung) vorlesen, das gesamte Ritual durchführen, die Gebete rezitieren und sogar die festlichen Speisen geniessen. Wenn an diesem Tisch keine Juden sitzen, handelt es sich nicht um einen Seder (rituelle Mahlzeit), sondern um eine inszenierte Handlung. Dies gilt für die meisten Rituale oder Gedenkfeiern innerhalb der israelitischen Nation: Durch die Person oder die Gemeinschaft erhalten diese Ereignisse ihre grundlegende Bedeutung. Die Schoah war per Definition die systematische Vernichtung der Juden. Es gibt keine andere Bezeichnung. Es gibt noch andere Opfer, es gibt! Aber es gibt nur einen Holokaust. Die Festlegung des Datums, an dem in Israel an den Holokaust gedacht werden sollte, löste 1951 in der Knesset (Parlament) heftige Diskussionen aus. Bis dahin, 1949 und 1950, wurde Jom Haschoah (Holokaust-Tag) am 10....
Anfänge der deutsch-jüdischen Einwanderung nach Rio de Janeiro
Die Geschichte der União Associação Beneficente Israelita (Jüdische Wohlfahrtsvereinigung) reicht zurück in die Zeit vor ihrer Gründung 1937 und hat ihren Ursprung Mitte der 1930er Jahre, als die ersten aus Deutschland geflüchteten Juden nach Rio de Janeiro und São Paulo kommen. Diese erhalten Unterstützung und Unterkunft durch eine Gruppe von Einwanderern unterschiedlicher Herkunft, überwiegend aus Osteuropa, die in Brasilien in der ehemaligen Geschäftsstelle des Relief Sociedade Beneficente Israelita (Jüdische Wohlfahrtsgesellschaft) in der Rua Joaquim Palhares an der Praça XI untergekommen sind. Über hundert Geflüchtete sind dort untergebracht, für weitere werden Unterkünfte in Pensionen und Privathäusern bereitgestellt. 1933 trifft sich eine kleine Gruppe deutsch-jüdischer Einwanderer regelmäßig in einem Club in der Rua Marquês de Paraná, den sie “Centro 33” nennen, um Erfahrungen und Informationen auszutauschen, aber auch um kulturelle und religiöse Bräuche aus der verlorenen Heimat zu pflegen. Im Jahr darauf hält die Gruppe selbst erste Gottesdienste zu Rosch ha-Schana und Jom Kippur...
Noach war in seiner Generation ein gerechter und tadelloser Mann
Genesis (1. Buch Mose) ist reine Poesie. Es muss unzählige Male gelesen werden und mit jeder Lektüre offenbart sich eine neue Ebene, eine neue Bedeutung. Die Dichte des Buches Genesis ist eine Herausforderung für Materie und Physik. Als liberale Juden entnehmen wir dem Text etwas, das uns über das hinausführt, was dort geschrieben steht. Wir heben uns von der Wörtlichkeit ab und begeben uns auf den Flug des Begreifens und Verstehens vor dem Hintergrund der heutigen Zeit. Parascha Noach ist voller wichtiger Matrizen, die sowohl Hollywood-Epen inspiriert haben als auch unverzichtbare Symbole in unserer heutigen Welt sind. In Noach passiert alles: die regenerierende Flut auf der Erde, die der Ungerechtigkeit und Korruption ausgeliefert ist; der Ruin des Turmbaus zu Babel, der Verwirrung und Missverständnisse hervorruft; die Erwähnung von Abram und Sarai, noch bevor sie der Patriarch Abraham und die Matriarchin Sarah wurden; die Taube mit dem Olivenzweig – Symbol des...
Anfänge der deutsch-jüdischen Einwanderung nach Rio de Janeiro
Die Geschichte der União Associação Beneficente Israelita (Jüdische Wohlfahrtsvereinigung) reicht zurück in die Zeit vor ihrer Gründung 1937 und hat ihren Ursprung Mitte der 1930er Jahre, als die ersten aus Deutschland geflüchteten Juden nach Rio de Janeiro und São Paulo kommen. Diese erhalten Unterstützung und Unterkunft durch eine Gruppe von Einwanderern unterschiedlicher Herkunft, überwiegend aus Osteuropa, die in Brasilien in der ehemaligen Geschäftsstelle des Relief Sociedade Beneficente Israelita (Jüdische Wohlfahrtsgesellschaft) in der Rua Joaquim Palhares an der Praça XI untergekommen sind. Über hundert Geflüchtete sind dort untergebracht, für weitere werden Unterkünfte in Pensionen und Privathäusern bereitgestellt. 1933 trifft sich eine kleine Gruppe deutsch-jüdischer Einwanderer regelmäßig in einem Club in der Rua Marquês de Paraná, den sie “Centro 33” nennen, um Erfahrungen und Informationen auszutauschen, aber auch um kulturelle und religiöse Bräuche aus der verlorenen Heimat zu pflegen. Im Jahr darauf hält die Gruppe selbst erste Gottesdienste zu Rosch ha-Schana und Jom Kippur...
Das Drama der Museen und die Dualität der Erinnerung
Der spirituelle Aspekt unserer Existenz basiert auf einer Ahnenverbindung durch eine gemeinsame Vergangenheit und eine immaterielle Gegenwart, die von einem übernatürlichen Wesen herbeigerufen und geschenkt wird. Der Ausdruck „unser Gott und Gott unserer Patriarchen und unserer Matriarchen“ offenbart diese zeitlose und kontinuierliche Verbindung, mit Ursprung und ohne Ende. Spiritualität, wie sie der Mensch kennt oder wünscht, ist unabhängig von unserem Erfindergeist. Die materielle Welt ist jedoch die elementare Manifestation der menschlichen Fähigkeit, zu erschaffen und zu erleben, sich auszudrücken und sich auf seine Umgebung und Mitmenschen zu beziehen. Die Herstellung einer Schraube oder eines Gemäldes ist das Ergebnis unserer besonderen Fähigkeit des Beobachtens, Verstehens und Interagierens. An der Schnittstelle dieser beiden Welten, der spirituellen und der materiellen, befinden sich Gegenstände für zeremonielle oder rituelle Zwecke. Sie sind unsere Erinnerungen an eine unantastbare Schicht der Existenz. Im Judentum sind diese Gegenstände nicht unbedingt heilig. Sie sind definitiv nicht heilig. Sogar die Gesetzestafeln,...
Wir waren selber Fremde im Land Ägypten
Der Text dieser Parascha bringt mich in eine etwas heikle Situation, da er Gesetze und Regeln – Mischpatim – mit sich bringt. Nicht, dass ich sie nicht schätze oder Ordnung und Disziplin nicht mag. Kein Wunder, dass ich eine Ausbildung zum Grafikdesigner gemacht habe, der Texte, Farben und Bilder in Ordnung bringt. Aber im Allgemeinen stören mich bestimmte Anwendungen von Gesetzen, wie sie in der Tora vorgeschrieben sind, entweder wegen ihrer Strenge, die Jahrhunderte oder Jahrtausende zurückreicht, oder wegen ihres Mangels an Aktualität oder Kontext. Daher bin ich ein treuer Verfechter des unserer Zeit und unseres Augenblicks angemessenen Ansatzes. Aber gerade dieser Auszug aus der Tora bringt etwas nicht nur sehr Aktuelles, sondern auch Grundlegendes für die Bildung des ethischen Verhaltens des jüdischen Volkes zu jeder Zeit: den Umgang mit anderen, die sich in einer weniger privilegierten Situation befinden als Du, sei es, weil es so ist, oder weil diese...
Familienschicksale: Briefe an Ruth Springer
Gerhard Springer wurde am 22. März 1889 in Culmsee, heute Polen (Chełmża), geboren. Seine Familie verkörperte die typische jüdische Familie, die sich im 19. Jahrhundert infolge der Haskala (jüdische Aufklärung) in die deutsche Gesellschaft integrierte, sich an deren kulturelle und gesellschaftliche Werte anpasste und in ihrer jeweiligen Heimatstadt volle Bürgerrechte genoss. Das Engagement deutscher Juden im Ersten Weltkrieg verdeutlicht diese Tendenz. In seinen Briefen von der Front an die Familie und seine Schwester Ruth beschrieb Gerhard alltägliche Dinge, so z.B. am 16. März 1915: „Liebe Eltern! Ich mache Euch darauf aufmerksam, dass ich vorgestern bei einem Nachtmarsch infolge zu schweren Tornisters zurückbleiben musste, am nächsten Tag war ich krank infolge starker Herztätigkeit und habe jetzt Schonung erhalten. Ich habe von euch innerhalb 10 Tage 40 Pakete, von allen anderen unmöglichen Menschen ebenfalls 40 erhalten, das sind zusammen 80. Wie stellt Ihr Euch wohl vor, soll ich die Sachen transportieren (…)“....
Familienschicksale: Briefe an Ruth Springer
Gerhard Springer wurde am 22. März 1889 in Culmsee, heute Polen (Chełmża), geboren. Seine Familie verkörperte die typische jüdische Familie, die sich im 19. Jahrhundert infolge der Haskala (jüdische Aufklärung) in die deutsche Gesellschaft integrierte, sich an deren kulturelle und gesellschaftliche Werte anpasste und in ihrer jeweiligen Heimatstadt volle Bürgerrechte genoss. Das Engagement deutscher Juden im Ersten Weltkrieg verdeutlicht diese Tendenz. In seinen Briefen von der Front an die Familie und seine Schwester Ruth beschrieb Gerhard alltägliche Dinge, so z.B. am 16. März 1915: „Liebe Eltern! Ich mache Euch darauf aufmerksam, dass ich vorgestern bei einem Nachtmarsch infolge zu schweren Tornisters zurückbleiben musste, am nächsten Tag war ich krank infolge starker Herztätigkeit und habe jetzt Schonung erhalten. Ich habe von euch innerhalb 10 Tage 40 Pakete, von allen anderen unmöglichen Menschen ebenfalls 40 erhalten, das sind zusammen 80. Wie stellt Ihr Euch wohl vor, soll ich die Sachen transportieren (…)“....
Die Nacht der gebrochenen Herzen und der zerbrochenen Gläser
Erst ab dem 19. Jahrhundert genossen Juden in einigen Herzogtümern und Fürstentümern, die den Bund Deutscher Nationen bildeten, Bürgerrechte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte Napoleon Bonaparte in diesem Staatenkonglomerat in den von ihm eroberten Gebieten eine Reihe gleicher Rechte für alle ein, die mit der deutschen Einigung 1871 beibehalten und 1918 mit der Weimarer Republik ratifiziert wurden. Um die Denkweise und Mentalität vieler in Deutschland lebender Juden und den Prozess zu verstehen, der in der Reichspogromnacht (Kristallnacht) gipfelte, ist es wichtig, einige Konzepte über die Lebensweise in Deutschland zu erläutern und Ereignisse der ARI-Gemeinschaft und ihrer Mitglieder zu rekapitulieren und diese in Bezug zu historischen Ereignissen zusetzen. Die Zugehörigkeit zu einer Nation hatte für die Juden im 19. und frühen 20. Jahrhundert viele Vorteile. Die starke Identifikation mit Aschkenas, dem hebräischen Namen für die Region Mitteleuropas, in der sich heute Deutschland und die umliegenden Gebiete befinden, war nicht umsonst....
Digitale Erfassung der Historischen Mitgliederkartei der ARI
Heritage and History (H&H) und die Associação Religiosa Israelita do Rio de Janeiro (ARI) unternehmen in Zusammenarbeit die digitale Erfassung der Historischen Mitgliederkartei der deutsch-jüdischen Gemeinde von Rio de Janeiro aus den 1940er Jahren. Durch die Digitalisierung dieser Kartei entsteht eine Sammlung an Informationen über eine bestimmte Gruppe, deren Geschichte im Rahmen der Immigrationsbewegungen der jüdischen Bevölkerung im 20. Jahrhundert noch nicht angemessen ausgewertet und erforscht worden ist. Die Datenerfassung von Individuen und demzufolge die Erstellung ihrer Biografien ermöglichen besseres Verständnis ihrer eigenen Schicksale und derer Familienangehörigen, aber gleichzeitig auch die Erkenntnis über Schicksale bestimmter Bevölkerungsgruppen.
Die Haberers: Ein Beispiel für Kontinuität
Ursprünglich aus der Gegend um Offenburg stammend, ließ sich die Haberer-Familie im 19. Jh. in Konstanz, Süddeutschland, nieder. Dort gründete Leo Haberer in der Bodanstraße 22-26 sein Geschäft. Heute, wie auch zu Beginn des Jahrhunderts, sind Konstanz (Deutschland) und Kreuzlingen (Schweiz) Grenzstädte, und für ihre Bewohner gibt es im täglichen Leben keine Grenze: Schweizer und Deutsche teilen sich Buslinien, Kultur- und Sportzentren und überqueren zum Einkaufen die Grenze. diese Situations änderte sich zwei Mal in der Geschichte: zur Zeit des Nationalsozialismus, da eine physische Grenze diesen Austausch unterbrach, und neulich während der COVID-19-Pandemie. Während und nach dem Ersten Weltkrieg wanderten verschiedene jüdische Familien von Konstanz auf der Suche nach besseren Geschäftsmöglichkeiten und vermutlich auch wegen der Neutralität der Schweiz in Kriegszeiten von Konstanz nach Kreuzlingen aus. Diese Migration nahm ab 1933, dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, zu und verschärfte sich 1936, als die Juden in Deutschland ihre Freiheit und Bürgerrechte...
Die Haberers: Ein Beispiel für Kontinuität
Ursprünglich aus der Gegend um Offenburg stammend, ließ sich die Haberer-Familie im 19. Jh. in Konstanz, Süddeutschland, nieder. Dort gründete Leo Haberer in der Bodanstraße 22-26 sein Geschäft. Heute, wie auch zu Beginn des Jahrhunderts, sind Konstanz (Deutschland) und Kreuzlingen (Schweiz) Grenzstädte, und für ihre Bewohner gibt es im täglichen Leben keine Grenze: Schweizer und Deutsche teilen sich Buslinien, Kultur- und Sportzentren und überqueren zum Einkaufen die Grenze. diese Situations änderte sich zwei Mal in der Geschichte: zur Zeit des Nationalsozialismus, da eine physische Grenze diesen Austausch unterbrach, und neulich während der COVID-19-Pandemie. Während und nach dem Ersten Weltkrieg wanderten verschiedene jüdische Familien von Konstanz auf der Suche nach besseren Geschäftsmöglichkeiten und vermutlich auch wegen der Neutralität der Schweiz in Kriegszeiten von Konstanz nach Kreuzlingen aus. Diese Migration nahm ab 1933, dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, zu und verschärfte sich 1936, als die Juden in Deutschland ihre Freiheit und Bürgerrechte...
Wer sind wir in diesem Moment?
Die Lektüre des Parascha Pinchas in dieser Woche machte mich auf die moralische und sachliche Dualität unseres Urteils aufmerksam: Pinchas wird für einen Mord mit der Ehre des ewigen Priestertums für seine Familie belohnt. In der heutigen Welt können wir uns mit dieser Tatsache nicht identifizieren. Die Töchter von Tzelofchad profitieren vom Erbe ihres Vaters. Sie suchen Moses, der Gott um Rat bittet. Und Gott findet es gerecht, dass sie das Erbe erhalten, wenn kein männlicher Erbe vorhanden ist. Damit hat Gott dieses Gesetz geschaffen, mit dem wir uns heute sehr gut identifizieren können. Ein Zeichen dafür, dass unsere Herangehensweise an den Text der Thora an unsere Zeit und unseren Raum gebunden ist. Ein Jude, der diese Parascha im Jahr 230 in einer geschlossenen und machohaften Kultur las, hätte vielleicht das Gegenteil von dem gedacht, was wir heute hier denken: Die Rechte der Töchter von Tzelofchad sind eine Beleidigung und...
Wir waren selber Fremde im Land Ägypten
Der Text dieser Parascha bringt mich in eine etwas heikle Situation, da er Gesetze und Regeln – Mischpatim – mit sich bringt. Nicht, dass ich sie nicht schätze oder Ordnung und Disziplin nicht mag. Kein Wunder, dass ich eine Ausbildung zum Grafikdesigner gemacht habe, der Texte, Farben und Bilder in Ordnung bringt. Aber im Allgemeinen stören mich bestimmte Anwendungen von Gesetzen, wie sie in der Tora vorgeschrieben sind, entweder wegen ihrer Strenge, die Jahrhunderte oder Jahrtausende zurückreicht, oder wegen ihres Mangels an Aktualität oder Kontext. Daher bin ich ein treuer Verfechter des unserer Zeit und unseres Augenblicks angemessenen Ansatzes. Aber gerade dieser Auszug aus der Tora bringt etwas nicht nur sehr Aktuelles, sondern auch Grundlegendes für die Bildung des ethischen Verhaltens des jüdischen Volkes zu jeder Zeit: den Umgang mit anderen, die sich in einer weniger privilegierten Situation befinden als Du, sei es, weil es so ist, oder weil diese...
Wenn aus Horror Schrecken wird
Die Reichspogromnacht, auch naiv „Kristallnacht“ genannt, markiert für die deutschen Juden die Verwandlung von Horror in Schrecken und den Beginn offener und systematischer körperlicher Gewalt. Bis dahin erfolgte die Verfolgung von Juden im Allgemeinen in Form von Zwang und Ausgrenzung durch rassistische und ausgrenzende Gesetze. Von da an war die körperliche Unversehrtheit der jüdischen Bevölkerung offiziell bedroht, und sowohl der Wunsch als auch die Notwendigkeit zur Auswanderung erreichten ein Ausmass der Verzweiflung: Die Flucht aus Deutschland wurde zur dringenden Überlebensfrage. Diese Nacht symbolisiert das Ende des deutschen Judentums, wie es bis dahin bekannt war – Synagogen werden niedergebrannt, Tausende jüdischer Männer werden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt, ihre Lebensgrundlagen werden ausgelöscht, ihr soziales Umfeld wird unterdrückt. Diejenigen, die aufgrund Beziehungen oder finanzieller Möglichkeiten, suchen Zuflucht in nahen oder fernen Ländern wie Brasilien. Die Hinterbliebenen sind Zeugen der Institutionalisierung antisemitischer Ideologie. Der heutige Abend, der den 80. Jahrestag dieser Schreckensnacht markiert,...
Solidarische Frauen: ein von vielen Händen geknüpftes Netzwerk
Die 100 Jahre von Froien Farain erzählen mehrere Geschichten. Die Aufzeichnung dieser Geschichten in einer Festschrift ist auch eine Erinnerung an die jüdische Gemeinde in Rio de Janeiro und Brasilien. Die zweisprachige Ausgabe (Portugiesisch und Englisch), die am 25. August 2024 veröffentlicht wurde, zeigt, dass die Aktivistinnen von Froien Farain heute einzeln, wie gemeinsam ein wichtiges Bindeglied in der jüdischen Tradition der Solidarität und der Beteiligung von Frauen sind. Brasilien hatte gerade seinen 100. Jubiläum der Unabhängigkeit gefeiert und die junge Republik, befreit von der Sklaverei, organisierte ihre Gesellschaft neu, mit mehr Integration und Religionsfreiheit. In der Bundeshauptstadt verwandelten neue öffentliche und private Gebäude Rio in die Wunderbare Stadt und der Migrationsstrom verstärkte sich mit der Ankunft von Schiffen, die Einwanderer aus der ganzen Welt brachten, darunter eine beträchtliche Anzahl jüdischer Einwanderer aus Osteuropa. In diesem Zusammenhang organisierten sich 1923 zum ersten Mal eingewanderte jüdische Frauen in einer Gesellschaft und...
Wenn aus Horror Schrecken wird
Die Reichspogromnacht, auch naiv „Kristallnacht“ genannt, markiert für die deutschen Juden die Verwandlung von Horror in Schrecken und den Beginn offener und systematischer körperlicher Gewalt. Bis dahin erfolgte die Verfolgung von Juden im Allgemeinen in Form von Zwang und Ausgrenzung durch rassistische und ausgrenzende Gesetze. Von da an war die körperliche Unversehrtheit der jüdischen Bevölkerung offiziell bedroht, und sowohl der Wunsch als auch die Notwendigkeit zur Auswanderung erreichten ein Ausmass der Verzweiflung: Die Flucht aus Deutschland wurde zur dringenden Überlebensfrage. Diese Nacht symbolisiert das Ende des deutschen Judentums, wie es bis dahin bekannt war – Synagogen werden niedergebrannt, Tausende jüdischer Männer werden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt, ihre Lebensgrundlagen werden ausgelöscht, ihr soziales Umfeld wird unterdrückt. Diejenigen, die aufgrund Beziehungen oder finanzieller Möglichkeiten, suchen Zuflucht in nahen oder fernen Ländern wie Brasilien. Die Hinterbliebenen sind Zeugen der Institutionalisierung antisemitischer Ideologie. Der heutige Abend, der den 80. Jahrestag dieser Schreckensnacht markiert,...
Deutsch-jüdisches Kulturerbe im tropischen Rio de Janeiro
Dieser Kiddusch-Becher steht beispielhaft für die Bewegung der verschiedenen jüdischen Bevölkerungen Europas – sei sie gewollt, oder ungewollt gewesen. In der Tat spielt Bewegung eine wichtige Rolle auch für die nicht-jüdischen Bevölkerungen, mehr als der engstirnige nationalbezogene Gedanke erlauben möchte. Menschen bewegen sich ständig. Nicht immer können oder dürfen sie ihren Besitz mitnehmen. Im 20ten Jahrhundert glückte nur einem Teil der europäischen Juden die Flucht vor den nationalsozialistischen Verfolgungen. Und klein ist die Zahl derer, die ihr Hab und Gut, ihre materielle Existenz, mitzunehmen vermochten, sodass der Stellenwert des immateriellen Gepäcks – der Kultur, der Tradition, des erworbenen Wissens – immer wichtiger wurde. In diesem Zusammenhang sind Judaika-Objekte nicht nur Begleiter oder Protagonisten im jüdischen Kultus oder im alltäglichen oder zeremoniellen Leben von Juden, sondern viel mehr selber Überlebende. Dieser Becher hat mit dieser Ausstellung das Glück und die Ehre in seine Heimat, in seinen Entstehungsort nach ungefähr 180 Jahren...
Unsere Pflicht zum Erinnern und unser Engagement zur Erinnerungskultur
Sie können Menschen am Erev (Vorabend) Pessach um einen Tisch versammeln, Sie können einen Teller mit allen symbolischen Speisen in die Mitte des Tisches stellen, aus der Haggada (Erzählung) vorlesen, das gesamte Ritual durchführen, die Gebete rezitieren und sogar die festlichen Speisen geniessen. Wenn an diesem Tisch keine Juden sitzen, handelt es sich nicht um einen Seder (rituelle Mahlzeit), sondern um eine inszenierte Handlung. Dies gilt für die meisten Rituale oder Gedenkfeiern innerhalb der israelitischen Nation: Durch die Person oder die Gemeinschaft erhalten diese Ereignisse ihre grundlegende Bedeutung. Die Schoah war per Definition die systematische Vernichtung der Juden. Es gibt keine andere Bezeichnung. Es gibt noch andere Opfer, es gibt! Aber es gibt nur einen Holokaust. Die Festlegung des Datums, an dem in Israel an den Holokaust gedacht werden sollte, löste 1951 in der Knesset (Parlament) heftige Diskussionen aus. Bis dahin, 1949 und 1950, wurde Jom Haschoah (Holokaust-Tag) am 10....
Die Thora trägt die Krone
„Nachamu, nachamu ami…“ Diese Melodie habe ich immer noch nicht vergessen. Es ist die Haftarah des kommenden Schabbats, Schabbat Nachamu. Der Schabbat, an dem ich vor 39 Jahren Bar Mizwa geworden habe. Da muss man nicht viel rechnen: Ich bin diese Woche 52 Jahre alt geworden – viermal Bar Mizwa. Diese Melodie und diese ersten drei Worte Jesajas, der darum bittet, dass sein Volk durch die Tragödie der Zerstörung des Tempels getröstet werde, werde ich vielleicht nie vergessen. Im Buch Devarim – den Worten, die Worte, die Moses an das Volk richtete – wird die Sage der Israeliten wiederholt, die Gesetze Gottes werden in Erinnerung gerufen, ratifiziert und erweitert, und in dieser Paraschah Vaet’chanan wird die besondere Grundlage dieser Nation unter anderen Völkern betont: Die Israeliten haben einen einzigen Gott und sind mit diesem einzigen Gott Partner der Schöpfung, verantwortlich füreinander und für alles, was auf der Erde lebt. Aus...
Der Kidduschbecher
Die Präsenz des Bechers unter den Gegenständen von Judaika beruht ausschließlich auf der Tatsache, dass er der Behälter ist, in dem sich Wein befindet. Der Wein wurde zum ersten Mal im Talmud in einer längeren Diskussion über die Reihenfolge des Segens über die Früchte des Weinstocks erwähnt und von der Zeit blieb der Brauch, ihn nach den Gebeten zu trinken. Erst unter dem Einfluss…
Deutsch-jüdisches Kulturerbe im tropischen Rio de Janeiro
Dieser Kiddusch-Becher steht beispielhaft für die Bewegung der verschiedenen jüdischen Bevölkerungen Europas – sei sie gewollt, oder ungewollt gewesen. In der Tat spielt Bewegung eine wichtige Rolle auch für die nicht-jüdischen Bevölkerungen, mehr als der engstirnige nationalbezogene Gedanke erlauben möchte. Menschen bewegen sich ständig. Nicht immer können oder dürfen sie ihren Besitz mitnehmen. Im 20ten Jahrhundert glückte nur einem Teil der europäischen Juden die Flucht vor den nationalsozialistischen Verfolgungen. Und klein ist die Zahl derer, die ihr Hab und Gut, ihre materielle Existenz, mitzunehmen vermochten, sodass der Stellenwert des immateriellen Gepäcks – der Kultur, der Tradition, des erworbenen Wissens – immer wichtiger wurde. In diesem Zusammenhang sind Judaika-Objekte nicht nur Begleiter oder Protagonisten im jüdischen Kultus oder im alltäglichen oder zeremoniellen Leben von Juden, sondern viel mehr selber Überlebende. Dieser Becher hat mit dieser Ausstellung das Glück und die Ehre in seine Heimat, in seinen Entstehungsort nach ungefähr 180 Jahren...
Das Drama der Museen und die Dualität der Erinnerung
Der spirituelle Aspekt unserer Existenz basiert auf einer Ahnenverbindung durch eine gemeinsame Vergangenheit und eine immaterielle Gegenwart, die von einem übernatürlichen Wesen herbeigerufen und geschenkt wird. Der Ausdruck „unser Gott und Gott unserer Patriarchen und unserer Matriarchen“ offenbart diese zeitlose und kontinuierliche Verbindung, mit Ursprung und ohne Ende. Spiritualität, wie sie der Mensch kennt oder wünscht, ist unabhängig von unserem Erfindergeist. Die materielle Welt ist jedoch die elementare Manifestation der menschlichen Fähigkeit, zu erschaffen und zu erleben, sich auszudrücken und sich auf seine Umgebung und Mitmenschen zu beziehen. Die Herstellung einer Schraube oder eines Gemäldes ist das Ergebnis unserer besonderen Fähigkeit des Beobachtens, Verstehens und Interagierens. An der Schnittstelle dieser beiden Welten, der spirituellen und der materiellen, befinden sich Gegenstände für zeremonielle oder rituelle Zwecke. Sie sind unsere Erinnerungen an eine unantastbare Schicht der Existenz. Im Judentum sind diese Gegenstände nicht unbedingt heilig. Sie sind definitiv nicht heilig. Sogar die Gesetzestafeln,...
Die Thora trägt die Krone
„Nachamu, nachamu ami…“ Diese Melodie habe ich immer noch nicht vergessen. Es ist die Haftarah des kommenden Schabbats, Schabbat Nachamu. Der Schabbat, an dem ich vor 39 Jahren Bar Mizwa geworden habe. Da muss man nicht viel rechnen: Ich bin diese Woche 52 Jahre alt geworden – viermal Bar Mizwa. Diese Melodie und diese ersten drei Worte Jesajas, der darum bittet, dass sein Volk durch die Tragödie der Zerstörung des Tempels getröstet werde, werde ich vielleicht nie vergessen. Im Buch Devarim – den Worten, die Worte, die Moses an das Volk richtete – wird die Sage der Israeliten wiederholt, die Gesetze Gottes werden in Erinnerung gerufen, ratifiziert und erweitert, und in dieser Paraschah Vaet’chanan wird die besondere Grundlage dieser Nation unter anderen Völkern betont: Die Israeliten haben einen einzigen Gott und sind mit diesem einzigen Gott Partner der Schöpfung, verantwortlich füreinander und für alles, was auf der Erde lebt. Aus...
Juden in Brasilien: Einwanderung und Vielfalt
Angesichts der Bedeutung der Erweiterung der Museumssammlungen, die die verschiedenen Gesichter der brasilianischen historischen Erfahrung repräsentieren, zielt das Projekt „Juden in Brasilien: Einwanderung und Vielfalt“ darauf ab, einen kritischen Blick auf die Sammlung des Historischen Nationalmuseums (MHN, Museu Histórico Nacional) aus der Sicht der jüdischen Präsenz in Brasilien zu entwickeln und eine Sammlung dreidimensionaler Objekte aufzubauen, die die materielle Kultur der Einwanderungserfahrung und den Aufbauprozess jüdischer Gemeinden in Brasilien wertschätzen. Aufgrund ihrer ethnischen Vielfalt und Herkunft prägen diese Gemeinschaften die brasilianische Gesellschaft kulturell und historisch und stellen ein wichtiges Element des Brasilidade (Brasilianertums) dar, das in der aktuellen MHN-Sammlung kaum vertreten ist. Das MHN wurde 1922 im Rahmen der Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der brasilianischen Unabhängigkeit gegründet. Seine ersten Sammlungen zeigten eine Art Geschichtslesung, die militärische, religiöse und nationalstaatliche Errungenschaften und die seiner Regierungsvertreter würdigte. In den 1980er Jahren wurden die Auswahlkriterien für Sammlungen im Zuge der Veränderungen im musealen...
Noach war in seiner Generation ein gerechter und tadelloser Mann
Genesis (1. Buch Mose) ist reine Poesie. Es muss unzählige Male gelesen werden und mit jeder Lektüre offenbart sich eine neue Ebene, eine neue Bedeutung. Die Dichte des Buches Genesis ist eine Herausforderung für Materie und Physik. Als liberale Juden entnehmen wir dem Text etwas, das uns über das hinausführt, was dort geschrieben steht. Wir heben uns von der Wörtlichkeit ab und begeben uns auf den Flug des Begreifens und Verstehens vor dem Hintergrund der heutigen Zeit. Parascha Noach ist voller wichtiger Matrizen, die sowohl Hollywood-Epen inspiriert haben als auch unverzichtbare Symbole in unserer heutigen Welt sind. In Noach passiert alles: die regenerierende Flut auf der Erde, die der Ungerechtigkeit und Korruption ausgeliefert ist; der Ruin des Turmbaus zu Babel, der Verwirrung und Missverständnisse hervorruft; die Erwähnung von Abram und Sarai, noch bevor sie der Patriarch Abraham und die Matriarchin Sarah wurden; die Taube mit dem Olivenzweig – Symbol des...
Solidarische Frauen: ein von vielen Händen geknüpftes Netzwerk
Die 100 Jahre von Froien Farain erzählen mehrere Geschichten. Die Aufzeichnung dieser Geschichten in einer Festschrift ist auch eine Erinnerung an die jüdische Gemeinde in Rio de Janeiro und Brasilien. Die zweisprachige Ausgabe (Portugiesisch und Englisch), die am 25. August 2024 veröffentlicht wurde, zeigt, dass die Aktivistinnen von Froien Farain heute einzeln, wie gemeinsam ein wichtiges Bindeglied in der jüdischen Tradition der Solidarität und der Beteiligung von Frauen sind. Brasilien hatte gerade seinen 100. Jubiläum der Unabhängigkeit gefeiert und die junge Republik, befreit von der Sklaverei, organisierte ihre Gesellschaft neu, mit mehr Integration und Religionsfreiheit. In der Bundeshauptstadt verwandelten neue öffentliche und private Gebäude Rio in die Wunderbare Stadt und der Migrationsstrom verstärkte sich mit der Ankunft von Schiffen, die Einwanderer aus der ganzen Welt brachten, darunter eine beträchtliche Anzahl jüdischer Einwanderer aus Osteuropa. In diesem Zusammenhang organisierten sich 1923 zum ersten Mal eingewanderte jüdische Frauen in einer Gesellschaft und...