Leben und Werk des Rabbiners Dr. Henrique Lemle
Der Werdegang des Rabbiners Dr. Henrique Lemle begann mit seiner Rede auf der Kanzel der Mannheimer Synagoge am 1. April 1933 – dem Tag, an dem im Deutschland zum Boykott jüdischer Einrichtungen, Geschäfte, Praxen und Kanzleien aufgerufen wurde. Sein Onkel, Vater seiner zukünftigen Frau Margot, war eines der ersten Opfer der Verfolgung durch die Nationalsozialisten während eines Pogroms in Creglingen Ende März 1933.
1934 von der liberalen Gemeinde in Frankfurt am Main unter Vertrag genommen, war Lemle der erste Rabbiner für die Jugend, und er wirkte in Frankfurt bis zu seiner Deportation ins Lager Buchenwald nach der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938, auch bekannt unter dem Namen Reichskristallnacht. Durch Vermittlung der Londoner World Union for Progressive Judaism wurde er gerettet und konnte nach England fliehen. Dort kam er nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939 als “feindlicher Ausländer“ (enemy alien) erneut in ein Internierungslager.
Wieder konnte Lemle mit Unterstützung der WUPJ Ende 1940 nach Rio de Janeiro auswandern, wo er mit Hilfe einer Gruppe bereits seit Mitte 1930 in Rio ansässiger deutsch-jüdischer Einwanderer im Januar 1942 die Associaçao Religiosa Israelita (Jüdische Religiöse Vereinigung) gründete. Lemle war der Rabbiner, der das Ehepaar Stefan und Lotte Zweig gegen die Anweisung des Diktators Getúlio Vargas nach jüdischem Brauch auf dem Städtischen Friedhof von Petrópolis bestattete.
Lemle war einer der Pioniere, die das liberale Judentum in Brasilien einführten, weiterentwickelten und bewahrten, wodurch es so verankert wurde, dass es auch nach seinem Tod im September 1978 Bestand hatte. Wichtige Kennzeichen seines Lebens und Wirkens sind sein Einfluss auf verschiedene jüdische Generationen in Rio, sein Verhältnis zur christlichen Welt in Brasilien, seine zionistische Position und seine Fähigkeit, sich selbst und alle um ihn herum in das neue Land einzugliedern.