Familienschicksale: Briefe an Ruth Springer
Gerhard Springer wurde am 22. März 1889 in Culmsee, heute Polen (Chełmża), geboren. Seine Familie verkörperte die typische jüdische Familie, die sich im 19. Jahrhundert infolge der Haskala (jüdische Aufklärung) in die deutsche Gesellschaft integrierte, sich an deren kulturelle und gesellschaftliche Werte anpasste und in ihrer jeweiligen Heimatstadt volle Bürgerrechte genoss. Das Engagement deutscher Juden im Ersten Weltkrieg verdeutlicht diese Tendenz.
In seinen Briefen von der Front an die Familie und seine Schwester Ruth beschrieb Gerhard alltägliche Dinge, so z.B. am 16. März 1915:
„Liebe Eltern! Ich mache Euch darauf aufmerksam, dass ich vorgestern bei einem Nachtmarsch infolge zu schweren Tornisters zurückbleiben musste, am nächsten Tag war ich krank infolge starker Herztätigkeit und habe jetzt Schonung erhalten. Ich habe von euch innerhalb 10 Tage 40 Pakete, von allen anderen unmöglichen Menschen ebenfalls 40 erhalten, das sind zusammen 80. Wie stellt Ihr Euch wohl vor, soll ich die Sachen transportieren (…)“.
In anderen hingegen beschreibt er fast surreale Situationen, wie jene an Ostern 1915, am 5. April: „Ich stand in der Nacht von Sonnabend zu Sonntag Posten, als gegen 1 Uhr nachts die Russen zu singen begannen; es wurde immer lauter, schließlich erscholl ein lauter vielstimmiger Männerchor durch die Nacht, sie sangen ihre typisch melancholischen Volkslieder; es wurde lebhafter, auch auf unserer Seite, schließlich hörte man genau, wie die Russen zu uns herüberriefen: „Preußen, wir wünschen gute Ostern!“ (…) Gegen Mittag 12 Uhr hatte sich an unserer Feldwache, die nur 100m von der russischen Stellung entfernt ist, der größte Teil der Kompanie eingesammelt und winkte zu den Russen hinüber, auch diese winkten und schließlich trat alles aus den Stellungen heraus, wir gingen ca. 60m, die Russen 40m vorwärts und trafen uns mitten zwischen den beiderseitigen Stellungen; (…) schließlich war alles schwarz von Soldaten, und man tauschte Cigarren und Wurst gegen russische Cigaretten etc.; (…) die Unterhaltung vermittelte ein russischer Soldat, ein Jude, der auch deutsch sprach (…) Die Mannschaften machten einen sehr guten, soliden Eindruck; aber man ist froh, dass man es wenigstens mit einem anständigen Gegner zu tun hat (…)“
Gerhard fiel am 1. Oktober 1916 in Armentiéres, an der belgischen Grenze, in einer Schlacht für sein Deutschland. Als das nationalsozialistische Regime an die Macht kam, sollte seine Heldenhaftigkeit der Familie und insbesondere seiner Schwester Ruth und dem Neffen Ernst nichts nützen.