Der spirituelle Aspekt unserer Existenz basiert auf einer Ahnenverbindung durch eine gemeinsame Vergangenheit und eine immaterielle Gegenwart, die von einem übernatürlichen Wesen herbeigerufen und geschenkt wird. Der Ausdruck „unser Gott und Gott unserer Patriarchen und unserer Matriarchen“ offenbart diese zeitlose und kontinuierliche Verbindung, mit Ursprung und ohne Ende.
Spiritualität, wie sie der Mensch kennt oder wünscht, ist unabhängig von unserem Erfindergeist. Die materielle Welt ist jedoch die elementare Manifestation der menschlichen Fähigkeit, zu erschaffen und zu erleben, sich auszudrücken und sich auf seine Umgebung und Mitmenschen zu beziehen. Die Herstellung einer Schraube oder eines Gemäldes ist das Ergebnis unserer besonderen Fähigkeit des Beobachtens, Verstehens und Interagierens.
An der Schnittstelle dieser beiden Welten, der spirituellen und der materiellen, befinden sich Gegenstände für zeremonielle oder rituelle Zwecke. Sie sind unsere Erinnerungen an eine unantastbare Schicht der Existenz.
Im Judentum sind diese Gegenstände nicht unbedingt heilig. Sie sind definitiv nicht heilig. Sogar die Gesetzestafeln, Gegenstände, die direkt von Gott kamen, wurden von Moses zerbrochen, als er zum ersten Mal vom Berg Sinai herunterkam und sah, wie die Menschen das goldene Kalb anbeteten. Selbst angesichts dieses dramatischen und bedrohlichen Moments bewahrt der biblische Bericht die Tafeln nicht und bringt das Kalb zum Schmelzen!
Der Bibeltext ist voller beschreibender Details über Gebäude, Utensilien, Verhaltensweisen, Reinheit von Dingen und Menschen. Nichts davon ist eine Bedingung oder Manifestation Gottes, aber es versetzt den Mann/die Frau in die genaue Stimmung, sich selbst zu erkennen, zu ehren und sich in die göttliche Schöpfung einzufügen.
Zeit x Raum
Der jüdische Kalender ist mehr als eine chronologische Organisation von Feierlichkeiten und Ereignissen. Es wurde als Struktur für die Interaktion mit der Welt konzipiert. Zeit ist im Judentum heilig: Wir heiligen den Schabbat, den siebten Tag, einen Zeitraum, keinen Ort.
Und die Zeit wird durch das Wort geheiligt, das eine Handlung in einem bestimmten Moment ausdrückt oder provoziert. Die göttliche Schöpfung wird durch das Wort vollzogen. Das Verb – Anrufung der Spiritualität – unterscheidet Zeiten. Und Zeiten markieren Räume.
Die zentrale Bedeutung von Zion und Jerusalem für das israelitische Volk ist unwiderlegbar, auch wenn sie mit einem bestimmten Ort verbunden sind. Eretz Israel ist kein Mittel, um die spirituelle Dimension zu erreichen, sondern das spirituelle Element selbst, das von Gott genannt wird und für die Existenz des Judentums von grundlegender Bedeutung ist. So wie Körper und Seele untrennbar miteinander verbunden sind, so sind es auch Israel und sein Volk. Im Laufe der Jahrhunderte der Diaspora gab es weder in der Liturgie noch im täglichen Leben der Israeliten eine kollektive Abkehr von Israel oder eine Loslösung von diesem historischen Ort.
Auch die Zeit wird hier betont: Wir schliessen den Pessach-Seder mit „leshana habaa birushalaim“ (nächstes Jahr in Jerusalem) – wir sind konkret auf das kommende Jahr bedacht, ein erneuerter Wunsch/Versprechen. Wir halten die Zeit ein und eskalieren Ereignisse. Und dabei helfen uns die Objekte, die uns umgeben.
Aktion x Absicht
Weder der Kelch noch der Wein sind heilig. Sie sind Vehikel, mit denen Menschen die göttliche Schöpfung in Worten (Bracha) erkennen und verherrlichen.
Der Tabernakel in der Wüste ist nur dann heilig, wenn er zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einem heiligen Zweck genutzt wird, der durch die menschliche Aktion, sich in genau dieser Sekunde wieder mit der Schöpfung zu verbinden, erfasst werden muss. Eine Konstruktion oder ein Objekt ist nur dann rituell, wenn es durch das Verb in einen Kontext der Heiligung der Schöpfung eingefügt wird.
Die Materialität dient dem Menschen in demselben Masse, wie der Mensch der Spiritualität dienen muss. Der Kelch aus edlem Material zeichnet den Menschen aus. Die Qualität von Wein und Trauben zeichnet den Menschen aus. Der Segen des Kiddusch1 heiligt in diesem Augenblick die Schöpfung. Der umgekehrte Weg ist nicht bestätigt: Die Schöpfung existiert unabhängig vom Adel oder gar der Existenz des Kelches oder Weins.
Der achtarmige Leuchter, den wir beim Chanukka-Fest (Chanukia) verwenden, ist weder während der acht Tage des Festes noch in der Vitrine oder im Regal, wo wir ihn das ganze Jahr über aufbewahren, heilig. Weder die Kerzen noch das Öl noch das Licht, das sie erzeugen. Aber vereint und aktiviert mit dem Verb der Brachot sind sie mächtige Werkzeuge, die uns beeindrucken und verzaubern, die uns transportieren.
So müssen wir uns der ästhetischen Schönheit, der Erhabenheit der Materialien und dem Können und der Kreativität der Hände stellen, die solche Objekte entworfen haben: Sie erinnern in unserer materiellen Welt an eine spirituelle Verbindung mit der Schöpfung. Sie sind Mittel und kein Zweck. Sie sind unsere menschliche und einzigartige Art, einen Moment mit den Elementen zu bewerten, die uns in der Welt zur Verfügung stehen.
Die eigentliche Schriftrolle, die das göttliche Gesetz unterstützt – die Sefer Tora – verliert ihre Funktion im rituellen Gebrauch, wenn das Wortfehlerhaft erscheint, wenn die Buchstaben, die den ultimativen Kodex tragen, verfälscht werden. Die Schriftrolle wird unbrauchbar (passul) und erfüllt ihren heiligen Zweck nicht mehr. Der Fleck ist materieller Natur, aber der Schaden ist spiritueller Natur.
Das Drama der Museen
Museen befinden sich nun schon seit einigen Jahrzehnten in ihrer Pubertät und werden von einer intensiven und fast unkontrollierbaren Transformationskraft erfasst, indem sie ihre bisherige Art des Ansammelns, Stapelns und Ausstellens aufgeben und sich ihrer katalytischen Mission widmen, Veränderungen im Denken und damit in der Gesellschaft zu fördern.
Museen sind Räume der Mobilisierung. Die Materialität seiner Sammlungen muss nicht nur beeindrucken, informieren und lehren, sondern auch die menschliche Seele aufwecken und zum Handeln anregen.
Die Rückgabe von Museumsstücken in ihre Herkunftsländer, die von meist europäischen Sammlern aus der islamischen Welt oder Afrika gestohlen wurden, ist mehr als ein Versuch, sich mit der kolonialen und extraktiven Vergangenheit abzufinden. Diese Stücke haben für den Besucher eines Museums in einer europäischen Stadt ihre Bedeutung verloren. Blosse Beobachtung, Wissen oder persönliches Interesse an einer bestimmten Zivilisation oder Kunst bilden nicht die Erinnerungskultur an dieses Land. Sie sind sicherlich Teil seiner Geschichte, aber sie sind keine Bestandteile seiner kollektiven Identität (oder wollen es nicht sein).
Es ist eine Tatsache, dass Mobilität und leichterer Zugang zum Verreisen zur Demokratisierung von Reisen in ferne Länder beigetragen haben. Auch der Wunsch, die Wiedergabe der Geschichte zu „korrigieren“ und dadurch Erinnerungskultur neu zu strukturieren, bleibt bestehen. Sie wird deswegen nicht geändert oder gelöscht.
Museen werden weiterhin Objekte sammeln. Und sie müssen es tun. Der Diskurs über seine Materialität hat sich jedoch weiterentwickelt. Museen müssen mehr denn je durchlässige Strukturen in der Gesellschaft sein. Sogar seine Architektur, die heute grösstenteils luftig, transparent und „berührbar“ ist, im Gegensatz zu neoklassizistischen, hermetischen, distanzierten und dominanten Gebäuden in der Stadtlandschaft, spiegelt diesen Wandel wider und ist nicht nur eine Mode oder ein Stil.
Im Jahr 2022 nahm das Historische Nationalmuseum von Rio de Janeiro (MHN) ein beispielloses Stück in seine Sammlung auf: einen Etrog-Behälter, gestiftet von der Associação Religiosa Israelita do Rio de Janeiro (ARI). Dieses Stück fügt die Einwanderung und die Präsenz von Juden in die Geschichte Brasiliens ein, anhand der Institution, die für die Erzählung der Verfassung der brasilianischen Nation verantwortlich ist.
Die Prozesse der Gedächtnisbildung statten ein Volk mit konstituierenden Elementen seiner Identität aus. Erinnerung verwandelt Identität in etwas Flexibles und Durchlässiges, aber dennoch Robustes und Unauflösliches.
Es ist weder möglich noch wünschenswert, unsere Rituale von unseren Objekten zu trennen. Und es ist auch unser Anspruch, dass wir Ressourcen und Anstrengungen investieren, damit sie ästhetisch schön sind und dem Stil, der Zeit und dem Ort, an dem sie hergestellt wurden und werden, entsprechen. Auch diese Gegenstände sollen unsere Sinne anregen, uns glücklich machen, uns bewegen. Sie sind Zeugen unserer Geschichte – wo wir waren, in welchen Zeiten wir gelebt haben, wie wohlhabend wir waren, wie engagiert wir uns für den Dienst der Tora und die Erfüllung unserer Mizwot eingesetzt haben.
Die Zerstörung des Tempels durch die Babylonier und später durch die Römer, der Transport der Tempelgegenstände von Jerusalem nach Rom, wie sie im Titusbogen geschnitzt sind, die Verbrennung unserer Bücher und unserer Synagogen im 20. Jahrhundert und viele Male zuvor im Mittelalter, der Diebstahl unserer Chanukiot, Kandelaber, Kidduschbecher, also Gegenstände, die in der Synagoge sowohl als zu Hause verwendet wurden – nichts davon erschütterte das Verb. Und jedes Mal, wenn Juden im Fluss der Geschichte wieder auftauchen, sind wir selber Erinnerung und rufen durch das Wort mit neuen und glänzenden Gegenständen zur Heiligung dieses Augenblicks.
- Segnung üben den Wein ↩︎