Der Text dieser Parascha bringt mich in eine etwas heikle Situation, da er Gesetze und Regeln – Mischpatim – mit sich bringt. Nicht, dass ich sie nicht schätze oder Ordnung und Disziplin nicht mag. Kein Wunder, dass ich eine Ausbildung zum Grafikdesigner gemacht habe, der Texte, Farben und Bilder in Ordnung bringt. Aber im Allgemeinen stören mich bestimmte Anwendungen von Gesetzen, wie sie in der Tora vorgeschrieben sind, entweder wegen ihrer Strenge, die Jahrhunderte oder Jahrtausende zurückreicht, oder wegen ihres Mangels an Aktualität oder Kontext. Daher bin ich ein treuer Verfechter des unserer Zeit und unseres Augenblicks angemessenen Ansatzes.
Aber gerade dieser Auszug aus der Tora bringt etwas nicht nur sehr Aktuelles, sondern auch Grundlegendes für die Bildung des ethischen Verhaltens des jüdischen Volkes zu jeder Zeit: den Umgang mit anderen, die sich in einer weniger privilegierten Situation befinden als Du, sei es, weil es so ist, oder weil diese Situation von Dir verursacht wurde. Im Fall der Parascha: Diener und Fremde, Vasallen eines Systems ländlicher und familiärer Organisation, das notwendigerweise einige gegenüber anderen privilegiert. Dies wiederholt sich in der Geschichte der Menschheit in jedem System: Im Sozialismus haben Beamte und die herrschende Schicht oft ein ungleiches Verhältnis zu einer Bevölkerung ohne politischen Einfluss; im Kapitalismus diejenigen, die Kapital im Verhältnis zu Arbeitern halten, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen; in jedem Machtsystem, in dem einer befehlen kann und eine beherrschende Stellung einnimmt und der andere gehorchen muss.
Die Tora ignoriert dies nicht! Wir lesen in Exodus (Schemot, 2. Buch Mose), Kapitel 20, Vers 22: „Täusche und unterdrücke keinen Fremden, denn du warst Fremde im Land Ägypten.“ Das göttliche Gesetz versteht diese menschliche Struktur der sozialen Organisation, schreibt uns jedoch Gerechtigkeit und Ethik auf, um damit umzugehen.
Ich bin schon seit einiger Zeit damit beschäftigt, über Unterdrückung nachzudenken. Für Unterdrückung wird in der Thora der Wortstamm «lachatz» verwendet, der im modernen Hebräisch zur Definition von Stress, psychischer Belastung, einem Geisteszustand benutzt wird, einem Zustand, der sowohl psychische als auch Verhaltenskrankheiten verursachen kann – was heute so alltäglich ist. Obwohl Stress heute noch nicht vollständig verstanden ist, hat es zumindest eine gewisse Berühmtheit erlangt und wird im populären Vokabular verwendet.
Nahe Freunde wissen, wie sehr mich dieses Thema von Unterdrückten und Unterdrückern beschäftigt, insbesondere diejenigen, die mit der jüdischen Gemeinde verbunden sind. Noch vor dem abscheulichen Angriff der Terrorgruppe Hamas auf die Bevölkerung des modernen demokratischen Staates Israel!
Meiner Meinung nach haben wir Juden oder zumindest ein Teil von uns beschlossen, unseren unterdrückten Status aufzugeben und uns als Unterdrücker zu verkleiden. Ich sage verkleiden, weil wir es nicht sind! Als historische Minderheit zu jeder Zeit und an jedem Ort sind wir nicht per se Unterdrücker. Und in unserem Ahnenheimat, wo wir als Mehrheit uns sogar verhalten oder diesen Unterdrückerstatus annehmen könnten, werden wir besonders in dieser Parascha und in der Haftara von Jeremia, die an diesem Samstag gelesen wird, daran erinnert, dass wir es nicht sind: dass wir nicht den Fremden unterdrücken werden, weil Fremden waren wir im Land Ägypten.
Die Haftarah-Lesung für diesen wöchentlichen Tora-Abschnitt stammt von Jeremia. Die Übertretung seitens der jüdischen Elite im Königreich Juda bei der Behandlung ihrer Sklaven, in diesem Fall hebräischer Männer und Frauen, ist sehr schwerwiegend. Jeremia fordert in Jerusalem die Freiheit der Sklaven. Durch die physische Befreiung der Sklaven würden diese Israeliten auch ihre eigene moralische Freiheit erlangen. Auf dem Höhepunkt ihrer „Unterdrückerverkleidung» befreit die Elite die Sklaven, um ihre Haut zu retten, versklavt sie aber sofort danach, wenn sie sich gerettet fühlen. Und so verursachen sie die moralische und physische Niederlage des Reiches Juda.
Diese Parascha bringt die Schalosch Regalim, die drei grossen Feste der zukünftigen Pilgerfahrt, in Ex. 23:14: „Dreimal im Jahr werdet ihr ein Fest für mich veranstalten: 15) feiert das Fest der ungesäuerten Brote – Chag Hamatzot“; 16) „und das Fest der Ernte, der ersten Früchte seiner Arbeit – Chag Hakatzir Bikurei“, das zu Schawuot wurde; „und das Erntefest am Ende des Jahres“, das Sukot sein wird. Von dieser Parascha an, mit der Erwähnung von Pessach, Chag Hamatzot, beginnen wir, uns auf die Feier der Freiheit vorzubereiten. Aber die Botschaft ist klar im Ex. 23:9: „Unterdrücke keinen Fremden, denn du kennst die Gefühle des Fremden, denn du selbst warst Fremde im Land Ägypten.“
Dieses Thema der Unterdrückten und Unterdrücker hat nichts mit der Rolle des Opfers oder Henkers zu tun, noch weniger mit einer expliziten Situation der Unterdrückung. Sondern der Zustand, sich als unterdrückte Person zu identifizieren und so Empathie für andere unterdrückte Menschen zu entwickeln und sie mit Würde und aus der Perspektive der Ethik zu behandeln. Wie Gott uns in dieser Parascha befiehlt.
Man könnte sich fragen, ob es schon gereicht hat, zu den Unterdrückten zu gehören. Das glaube ich eben nicht. Sich selbst als jemand zu verstehen, der in Ägypten unterdrückt und dann befreit wurde, bedeutet nicht, dass das eigene Schicksal darin besteht, versklavt, misshandelt oder getadelt zu werden. In derselben Parascha lesen wir unzählige Gesetze (Mishpatim) darüber, wie man den Sklaven oder denjenigen, der da ist, um uns zu dienen, behandeln und mit ihm umgehen muss. Der Text ist klar, vor allem für diejenigen, denen es wichtig ist, sich an die Wörtlichkeit des Bibeltextes zu halten: „Täusche und unterdrücke keinen Fremden, denn du warst Fremde im Land Ägypten.“
Unterdrückt zu sein ist eine Haltung. Die Unterdrückten zeigen Mitgefühl gegenüber anderen Unterdrückten, der Unterdrücker ist dies im Allgemeinen nicht. Pessach ist kein Familienessen, bei dem wir einen Sieg feiern. Der Sieg liegt nicht bei euch, Jude oder Jüdin! Es war Gott, der Dich aus Ägypten geführt hat, und jedes Mal, wenn wir Kiddusch rezitieren, werden wir daran erinnert. Und Er erinnert uns immer daran, dass wir Sklaven in Ägypten waren und wir, besonders an Pessach, gezwungen sind, uns so zu fühlen, als wären wir selbst aus Ägypten befreit worden. Empathie oder Mitgefühl sind für Dich im Judentum keine Option, weder aus Mitleid noch aus Interesse: Es ist eine Verpflichtung!
Moses wurde als ägyptischer Prinz erzogen, doch als er sieht, wie ein hebräischer Sklave ausgepeitscht wird, wird er wieder mit der eigenen unterdrückten Situation konfrontiert. Nicht nur sympathisiert er mit den Unterdrückten, er identifiziert sich als der Unterdrückte. Die Tora will nicht, dass wir unterdrückt werden. Gott garantiert, dass unsere Feinde Seine Feinde sein werden und dass wir durch Sein Eingreifen Kriege gewinnen und Frieden haben werden.
Könnte das aber bedeutet, dass Israel sich nicht mit militärischen Bewegungen im Gazastreifen verteidigen sollte? Im Geringsten ist das nicht der Fall, denn Israel muss seine Bürger verteidigen. Denn Israel ist das Land dieser Menschen, der Entführten. Wenn die Hamas die Israelis befreien liesse, wie sie es mit den Brasilianern, Briten, Filipinos, Schweizern oder Franzosen getan hat, wären wir nicht auf diesem Niveau der Militäroffensive. Aber den Israelis wird dieser Luxus der Freiheit nicht gewährt. Und sie haben nur Israel, das versucht, sie zu befreien.
Wenn ich lese, dass es jüdische Männer und Frauen in einem Zustand der Vernachlässigung gibt, wenn ich lese, dass Schoah-Überlebende in Israel in Armut leben, oder wenn ich erlebe, dass unsere jüdische Elite, ob in Brasilien oder anderswo auf der Welt, keinerlei Verpflichtung hat an unsere eigenen Leidenden frage ich mich: Verstehen sie, dass Matza kein ungesäuertes Brot ist, sondern das Brot der Leidenden? Dass diejenigen, die den Segen sprechen und dieses Brot essen, sich auch wie aus Ägypten befreit fühlen müssen? Dass sie nichts weiter sind als unterdrückte Menschen, denen materieller Wohlstand zuteilwird, und dass sie Mitleid mit anderen leidenden und unterdrückten Menschen haben sollten?
Die Lektüre der Haftara von Jeremia oder sogar des gesamten Buches kann aufschlussreich sein. Wir leben nicht mehr im Zeitalter der Richter und Propheten. Mit der Demokratisierung von Informationen und unserem immer einfacheren und oft kompromisslosen Zugang zu Wissen überspringen wir die Phase der Ausarbeitung, Unterscheidung, des Lernens und damit des Filters. Und viele von uns halten an minderwertigen Nachrichten und einfachen Wegen fest, was zwangsläufig zu leichtfertigem Verhalten führt. Aber die Tora ist da, ebenso wie ihre unendlichen Interpretationen, Kommentare und Reflexionen. Wenn diejenigen, die sich nur daran erinnern können, diese Parascha gelesen zu haben, zum Beispiel den Abschnitt, der das Kochen eines Geissleins in der eigenen Muttermilch verbietet, und nicht verstehen, dass es sich dabei nur um Stroganoff handelt, dann ist es an der Zeit, alles noch einmal zu lesen. Die Chance gibt es jedes Jahr.
Was die sehr interessante Diskussion der letzten Woche betrifft, erweckt durch das Referat unseres emeritierten Germano Fraifeld, verstehe ich, dass die Diaspora uns überall wieder in die Position des Fremden zurückversetzt hat. Und dass diese Position den europäischen und arabischen nationalistischen Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert immer unangenehmer wurde. Und dass die Gesellschaft uns im Allgemeinen überzeugt und uns als den internationalen Ausländer eingestuft hat – eine Bedrohung!
Aber ich glaube, dass wir, die das Privileg haben, diese Botschaft „Unterdrückt keinen Fremden, denn ihr kennt die Gefühle des Fremden, da ihr selbst Fremde im Land Ägypten wart“ jedes Jahr erneut zu lesen und uns von ihr leiten zu lassen, eine moralische Verpflichtung haben, zu agieren. Als Licht unter den Völkern dürfen wir diese Situation nicht mit politischer Arroganz, toxischem Machismo oder extremem Diskurs angehen. Wir waren Fremde und haben den Talmud verfasst. Wir waren Fremde und glänzten im Goldenen Zeitalter in Spanien. Wir waren Fremde und haben Europa mit Kunst, Kultur, Architektur beleuchtet. Und in dieser Lage als Fremde verwirklichten wir den Traum von unserem Ahnenheimat Israel. Das ist es, was ich sowohl als Einheimischer als auch als Fremder glauben möchte!