Deutsch-jüdisches Kulturerbe im tropischen Rio de Janeiro

von Charles Steiman

Vortrag anlässlich der Ausstellung «Lechaim» im Museum im Prediger
im Jahr der Feierlichkeit von 1.700 Jahren Jüdischer Präsenz in Deutschland
Schwäbisch-Gmünd, am 29. Juli 2021

Kidduschbecher, Schwäbisch-Gmünd, c. 1840. Dieser Becher hat mit dieser Ausstellung das Glück und die Ehre in seine Heimat, in seinen Entstehungsort nach ungefähr 180 Jahren zurückzukehren. Vielen anderen – Judaika, Menschen, Büchern – ist das leider nie möglich gewesen

Einwanderer beim Portugiesisch-Unterricht. Wenige konnten sich auf die Auswanderung vorbereiten, auch weil sie nur mit dem Vorwand als Touristen einreisen dürfen. Die União wurde 1937 gegründet, um juristische Betreuung, Unterkunftssuche, Sprachunterricht und Hilfeleistung anzubieten.

Therese Bierig (geb. 1913 in Frankfurt am Main ) auf dem Kap Ancona 1937 auf dem Weg nach Rio de Janeiro. „Als mein Mann 1936 seinem Onkel mitteilte, dass wir auswandern wollten, meinte dieser: “Warum willst du weggehen? Wieso hast du es so eilig?” fragte er.“

Hermann Zuckermann (geb. 1912 in Nürnberg) zu seiner Bar-Mizwah in 1925. „Als das Schiff in Le Havre ablegte, habe ich sehr geweint."

Dieser Kiddusch-Becher steht beispielhaft für die Bewegung der verschiedenen jüdischen Bevölkerungen Europas – sei sie gewollt, oder ungewollt gewesen. In der Tat spielt Bewegung eine wichtige Rolle auch für die nicht-jüdischen Bevölkerungen, mehr als der engstirnige nationalbezogene Gedanke erlauben möchte.

Menschen bewegen sich ständig. Nicht immer können oder dürfen sie ihren Besitz mitnehmen. Im 20ten Jahrhundert glückte nur einem Teil der europäischen Juden die Flucht vor den nationalsozialistischen Verfolgungen. Und klein ist die Zahl derer, die ihr Hab und Gut, ihre materielle Existenz, mitzunehmen vermochten, sodass der Stellenwert des immateriellen Gepäcks – der Kultur, der Tradition, des erworbenen Wissens – immer wichtiger wurde.

In diesem Zusammenhang sind Judaika-Objekte nicht nur Begleiter oder Protagonisten im jüdischen Kultus oder im alltäglichen oder zeremoniellen Leben von Juden, sondern viel mehr selber Überlebende. Dieser Becher hat mit dieser Ausstellung das Glück und die Ehre in seine Heimat, in seinen Entstehungsort nach ungefähr 180 Jahren zurückzukehren. Vielen anderen – Judaika, Menschen, Büchern – ist das leider nie möglich gewesen.

Ihre Form, ihr Material, ihr Stil stehen verhältnismässig zu dem sozialen Gewebe, der Lebensform, der Zeitgeist, zu der die Menschen gehörten, die sie benutzt, bestellt, oder im Auftrag gegeben haben. Indem wir uns diese Objekte anschauen, bekommen wir zugleich die menschlichen Geschichten, die dahinter stecken, mit. Unter diesen Geschichten sind auch die Geschichten von Deutschen, die Juden gewesen sind, Flüchtlige des eigenen Landes.

Therese Bierig, 1913 in Frankfurt am Main geboren und 1937 nach Rio ausgewandert, erzählt uns: „Jeden Tag legte ich den Weg von zuhause bis zum Büro zurück. Dazu brauchte ich ungefähr 25 Minuten. Unterwegs traf ich Klassenkameraden, ehemalige Schulfreundinnen, wir gingen den Weg zusammen. Eines Tages fiel mir auf, dass sie mich nicht mehr grüßten. Sie sahen durch mich hindurch. Anfangs dachte ich, es sei ein persönliches Problem, dass ich jemanden beleidigt oder etwas getan hätte, das sich nicht gehörte. Doch bald merkte ich, dass niemand auf der Strasse mich mehr grüsste.

Als mein Vater noch lebte, hatte er einem meiner Cousins in Rio de Janeiro geschrieben und gefragt, ob es nicht möglich wäre, dass wir nach Brasilien kämen. Wir brauchten von meinem Cousin ein Einladungsschreiben, das es erlaubte, Angehörige nachzuholen. Es liess auf sich warten. Mein Vater starb. Da verlor ich den Mut wegzugehen, ich wollte meine Mutter nicht allein lassen. Aber dann verschlechterte sich die Situation dramatisch. 1937 machten wir uns schliesslich auf den Weg. Mein Mann gab seine Arbeit auf. Als mein Mann 1936 seinem Onkel mitteilte, dass wir auswandern wollten, meinte dieser: “Warum willst du weggehen? Wieso hast du es so eilig?” fragte er.“

Auch der Frankfurter Rudi Feitler, 1911 geboren und 1935 in Rio angekommen, erinnerte sich mit Verwunderung an vergangene Jahre zurück: „Meine Mutter war Pianistin. Mein Vater war Textilkaufmann und vertrat auch die Geschäfte meines Grossvaters mütterlicherseits. Unsere finanzielle Situation war gut. In unserem Haus gaben sich Bildhauer, Maler, Musiker die Klinke in die Hand. Eine grossartige Geschichte. Meine Schwester studierte auch Musik. Sie nahm Gesangsunterricht in München. Eines Tages schrieb sie uns einen Brief: „Gestern habe ich die Rede eines Mannes gehört, er heisst Hitler. Faszinierend!“ Das war im Jahr 1924.“ Rudi Feitlers Patenonkel war der Bildhauer Benno Elkan, der die Menora vor dem israelischen Parlament in Jerusalem geschaffen hat. Benno Elkans Karriere war von Rudi Feitlers Vater unterstützt worden. Rudi und Erna Feitlers Enkelkind, Bruno, ist ein renommierter Historiker in Brasilien und hat Elkans frühere Arbeiten bei sich zu Hause in São Paulo.

Mit diesen Menschen beschäftige ich mich. Sie sind die Eltern oder Grosseltern meiner Freunde und Bekannten aus meiner Gemeinde in Rio, die am 13. Januar 1942 unter der Leitung von Rabbiner Dr. Lemle gegründet worden ist. Menschen, denen der Aufbau eines neuen Lebens gelungen ist, nachdem die alten Wurzeln in Europa gewaltsam herausgerissen worden waren. 

„Ich unterzeichnete eine Verpflichtungserklärung,“ erzählt uns Hans Wilmersdorfer, 1908 in Amberg geboren, „dass ich Deutschland binnen einiger Wochen verlassen würde und durfte, gehen. Ich fuhr direkt zu mir nach Hause, nach München, mit meinem kahlgeschorenen Kopf, alle Leute wussten schon, dass so einer als Häftling in Dachau gewesen war. Mein Vater war vor mir entlassen worden, er war nur 18, 20 Tage inhaftiert. Denn nach den gesetzlichen Bestimmungen, wenn man überhaupt von gesetzlichen Bestimmungen reden kann, hätte er aufgrund seines Alters gar nicht verhaftet werden dürfen. Mein Bruder lebte schon seit 1936 in Brasilien. Ich kam im Februar 1940 an und begann im März zu arbeiten. In Brasilien war es möglich, auf die eine oder andere Art über die Runden zu kommen. Und wir waren sehr glücklich mit dem Wenigen, das wir verdienten. Das genügte uns. Alles im Leben ist relativ.“ Hans Wilmersdorfer wurde ein erfolgreicher Unternehmer in Rio und war über 10 Jahre Präsident des deutsch-jüdischen Altenheims União, das 1937 in Rio gegründet worden war. 

Innerhalb des Prozesses des schmerzhaften Verlusts der geliebten Heimat und des Heimischwerdens im Aufnahmeland, der mit Trauer und Wut, aber mit dem Gefühl des Überlebens und neu gewonnenem Selbstvertrauen verbunden war, gaben einige Frauen und Männer Orientierung und wurden zu Vorbildern.

Die geistige Führung der deutschen Rabbiner spielte eine essenzielle Rolle, damit die jüdischen Flüchtlinge in Zuversicht und Sicherheit eine neue Existenz begründen konnten. Einer davon war Rabbiner Dr. Lemle. Seine Familie gehörte zu den ersten Opfern des nationalsozialistischen Regimes, denn während eines Pogroms im März 1933 in Creglingen erlitt sein Onkel und Vater seiner späteren Frau tödliche Verletzungen. Rabbiner Dr. Lemle wurde 1909 in Augsburg geboren. Am 1. April 1933, dem Tag des gezielten deutschlandweit durchgeführten Boykotts jüdischer Geschäfte, Warenhäuser, Banken, Arztpraxen, Rechtsanwalts- und Notarkanzleien, trat er seine erste Stelle als Gemeinderabbiner der liberalen Gemeinde in Mannheim an. Im Juni 1934 ging er nach Frankfurt am Main, um dort das Amt des Jugendrabbiners in der Gemeinde Frankfurt zu bekleiden.

„Meine Tätigkeit als Gemeinderabbiner begann ich in Mannheim am 1. April 1933. Wenige Monate später besuchte mich Rabbiner Dr. Cäsar Seligmann und lud mich im Auftrag des Vorstandes der Gemeinde Frankfurt ein, als Rabbiner in diese grosse traditionsreiche Gemeinde zu kommen. Man bot mir die Möglichkeit, etwas ganz Neues zu versuchen. Ich sollte als erster Rabbiner für die Jugend hauptsächlich für die Jugend tätig sein. Die jüdische Jugend jener Tage erlebte ihr Jude-sein zunächst als Störung aller Pläne für die Zukunft. Dann erlebten wir, dass in diesem Haus viel mehr entstanden war als nur ein Jugendheim. Hier war das Zentrum des Erarbeitens und des Aufbaus, von hier strahlte die Kraft aus, die hineinwirkte in Heimabende und Wanderungen, in die Werkstätten und Immigrationsvorbereitungslager, die Kraft, die mit hinaus wanderte auf Zügen und Schiffen, über Länder und Meere.“ 

Wie Tausende von Juden wurde Rabbiner Dr. Lemle nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Nur unter Vermittlung von der Union Progressiver Juden in London gelang die Befreiung im Dezember 1938 und bald darauf die Flucht nach England. Dort konnte Dr. Lemle anfangs als Rabbiner tätig sein, bevor er nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939 als „enemy alien“ (ausländischer Feind) auf der Isle of Man interniert wurde. Ende 1940 emigrierte Rabbiner Dr. Lemle zusammen mit seiner Familie nach Rio de Janeiro, wo ihn die deutschsprachige jüdische Gemeinschaft bereits erwartete.

Hermann Zuckermann, 1912 in Nürnberg geboren, war 13 Jahre Vorsitzender der deutsch-jüdischen Gemeinde und erzählt uns heute: „Als das Schiff in Le Havre ablegte, habe ich sehr geweint. Aber als wir in Rio ankamen, am 30. April 1934, kannte ich schon die Leute auf dem Schiff. In Rio war ich auch Mitglied eines Clubs. Er nannte sich Clube 33 und hatte seinen Sitz in Botafogo. Juden, die zwei oder drei Monate früher angekommen waren, hatten ihn gegründet. Dort verbrachten wir die Abende, spielten Karten, Schach, unterhielten uns. Dort bildete sich der erste Minjan (Gebetsgruppe) für die jüdischen Feiertage.“

Manche konnten fliehen und sich nach Rio de Janeiro oder São Paulo retten. 1933 kamen die ersten 150 Flüchtlinge aus Deutschland an. In Brasilien kamen insgesamt zwischen 1933 und 1941 rund 20.000 bis 35.000 deutsche Juden an. Diese Zahlen sind jedoch schwer zu bestimmen. 1935 allerdings begannen schon in Deutschland die Restriktionen für die Auswanderung von Juden.

Erwin Wegner, 1909 in Berlin geboren, erzählt uns von seiner Ankunft in Brasilien in 1936: „Am 23. Dezember kam ich in Brasilien an. Es war ein heisser Tag, sehr heiss. Meine Schwester holte mich ab, wir fuhren direkt zu ihr nach Hause. Für mich war das alles neu. Das Klima, die Menschen, alles ganz anders. Auf der Avenida Rio Branco standen die Leute in Gruppen, sie unterhielten sich, gestikulierten und redeten laut. Und die Strassenbahnen waren alle offen, der Schaffner drängte sich an den Menschen vorbei und rief: Entschuldigung, wären Sie so freundlich? Wären Sie so freundlich?“ 

Die Deutsch-Juden stossen dann auf eine jüdische Gemeinde in Rio de Janeiro, die überwiegend sephardischer Herkunft war – also aus Ländern des Osmanischen Reiches, Syrien, Libanon, Ägypten, der Türkei – oder aus Marokko, und osteuropäischer Herkunft –  Polen, Russen, Litauer.

Auch wenn alle Einwanderer die Herausforderungen der Neuanfänge teilten, folgte unmittelbar nach der Ankunft die Differenzierung der Gruppen: Die deutsch-jüdischen Einwanderer kamen meist aus bürgerlichen, gebildeten Schichten, hatten jedoch kompliziertere bürokratische Anliegen zu bewältigen wegen ihrer Staatsangehörigkeit und sogar Staatslosigkeit.

Brasilien steckte damals mitten in der „Ära Vargas“ – von 1930 bis 1945 war Getulio Vargas zuerst Präsident und im Anschluss Diktator. Diese Zeit brachte tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen mit sich, begleitet von einem erwachenden Nationalismus. Hinzu kamen VargasʼBewunderung für die faschistischen europäischen Diktatoren und ein ausgeprägter Antisemitismus, der den latenten Antisemitismus in Teilen der brasilianischen Eliten und den Einfluss rechtsgesinnter deutschstämmiger Einwanderer beförderte, die bereits 1931 die Gründung der ersten Vertretung der NSDAP in Brasilien vorantrieben.

Das von den rechtskatholischen Integralisten verbreitete Gerücht einer jüdisch-kommunistischen Verschwörung (der sogenannte Cohen-Plan) gab Vargas die Gelegenheit den Kriegszustand auszurufen, den Nationalkongress aufzulösen und am 10. November 1937 eine neue Verfassung in Kraft zu setzen. Damit begann die Diktatur des Estado Novo, des Neuen Staates. Die Einwanderungsgesetze vom Mai 1938 schlossen jüdische Flüchtlinge zwar nicht aus, knüpften die Einwanderung aber an komplizierte, bürokratische Bedingungen, welche die meisten nicht erbringen konnten.

Bei Kriegsbeginn verhielt sich Vargas zunächst scheinbar neutral. Hintergrund waren Handelsverträge mit dem Dritten Reich. Zwar erhöhten die USA und Grossbritannien ab Mitte 1940 den Druck auf die brasilianische Regierung, aber es dauerte noch bis zum 22. Januar 1942 – nachdem deutsche U-Boote brasilianische Handelsschiffe vor der brasilianischen Küste torpediert hatten – bis Vargas nachgegeben und Deutschland und seinen Verbündeten den Krieg erklärt hat.

Unmittelbare Folgen dieser Kriegserklärung für deutschstämmige Brasilianer und deutsche Einwanderer waren das Verbot der deutschen Sprache und der politischen Betätigung sowie Einschränkungen der Berufsausübung und der Reisemöglichkeiten innerhalb Brasiliens. Es folgten Verhaftungen von Personen mit deutschem Pass oder verdeckten Identitäten, gegen die der brasilianische Geheimdienst seit 1938 ermittelt hatte.

Erwin Wegner, 1936 eingewandert, konnte sich trotz seiner deutschen Ausbildung als Zahnarzt nicht gänzlich integrieren. Erwin erzählt uns: „Doch die Anerkennung freiberuflicher Tätigkeiten war noch nicht hinreichend geregelt und dann hiess es, ich müsse noch einige Schulfächer nachholen. Drei insgesamt: Portugiesisch, brasilianische Geschichte und Geografie. Ich besuchte eine Art Kolleg und schloss die genannten Zusatzfächer ab. Erst 1951 durfte ich eine Prüfung machen, um mein Diplom als Zahnmediziner anerkennen zu lassen. Damit endete die Phase meiner Immigration und der Kampf ums Überleben.“

Ernesto Bach, 1920 als Ernst Albert Bach geboren, konnte 1938 mit einem falschen Visum nach Uruguay ausreisen und schaffte es, illegal in Brasilien einzuwandern. Ernesto erzählt uns: „Es gab auch ein Gesetz, nach dem alle Einwanderer, die vor 1933 angekommen waren, automatisch eine Aufenthaltserlaubnis erhielten. Zwei jüdische Mitarbeiter schafften es, dass mein Name auf die Ankunftsliste eines bestimmten portugiesischen Schiffes gesetzt wurde, das 1932 oder 1933 angekommen war. So konnte ich meinen Aufenthaltstitel in Recife beantragen. Das war im Jahr 1939. Ungefähr 1942 oder 1943 beschloss ich, nach Rio zu gehen. Aber ich brauchte einen Passierschein, denn ich galt als Deutscher. Es war sehr schwer, diesen Passierschein zu bekommen. Ich musste fliegen und alles mit grossem Vorlauf festlegen, aber der Passierschein konnte erst einen Tag vorher abgeholt werden. Als ich bei der Polizeiabteilung für politische und soziale Ordnung ankam, sassen da viele Leute, die einen solchen Schein haben wollten, und ich musste warten. Endlich war ich an der Reihe. Als der Beamte herauskam, ging er an mir vorbei und sagte: “Sie werden morgen nicht verreisen, ausgeschlossen.“ Ich ging immer wieder hin, mehrere Tage hintereinander. An einem Tag redeten sie nicht mit mir, am nächsten gingen sie hinein und kamen wieder heraus, aber ohne mir das Geringste mitzuteilen. Tage später wurde ich aufgerufen, es war ein General anwesend, sie stellten mir ein paar Fragen, ich musste aber den ganzen Tag lang warten. Schliesslich dann die Ankündigung: „Sie können Ihre Reise antreten.“

Die Juden aus Deutschland mussten unter diesen Umständen mit einer Doppelbelastung zurechtkommen: Bis 1942 waren sie als Juden unerwünscht, nach 1942 dann als Deutsche unerwünscht. Nach 1942 wurde die deutsche Sprache offiziell verboten. Um die deutsch-jüdische Bevölkerung zu schützen und die Ausstellung von Passierscheinen bei den Behörden zu ermöglichen, statteten die drei grossen deutsch-jüdischen Gemeinden Brasiliens – die SIBRA in Porto Alegre im Süden, die CIP in São Paulo und die ARI in Rio – ihre Mitglieder mit einem Ausweis aus, der sie als Juden auswies.

Es gibt Berichte von der Familie Sichel z.B., die sich zuerst im Inland des Nordosten Brasiliens angesiedelt hat, dass sie eine zweite Pogromnacht erleben mussten und die Männer verhaften wurden. Kinder der Einwanderer, die zur heutigen Zeit um die 80, 85 Jahre alt sind, beherrschen die deutsche Sprache deutlich schlechter als jüngere Kameraden, denn die Eltern haben vermieden mit den Kindern Deutsch zu reden, damit sie sich auf der Strasse nicht verplappern.

„Meine Mutter, mein Bruder und meine erste Frau blieben in Deutschland. Denn im Jahr 1940, als wir das Land verliessen, musste man schon ein Einladungsschreiben vorweisen und wir hatten nur Papiere für zwei Personen und mein Onkel, der in Shanghai war, schickte uns die beiden Einreisevisa und sagte: „Sobald ihr abgereist seid, werden wir die anderen Papiere besorgen. Am besten ist es, die Männer kommen zuerst, für sie ist es gefährlicher. Die Frauen kommen später nach.“ Aber danach wurden keine Einreisevisa mehr erteilt. Sie alle kamen im Konzentrationslager ums Leben.

Als der Krieg vorbei war, wollten wir nach Amerika oder Südamerika auswandern. Da es in den Vereinigten Staaten ein Quotensystem gab, hatte ich keine Chance, denn da, wo ich geboren war, war inzwischen Polen. Und für Polen waren die Quoten ausgeschöpft. Meine Frau, die aus Belgien stammte, wäre aufgenommen worden, für sie zählten die belgischen Quoten. Wir hätten auch nach Deutschland zurückgehen können, aber das wollten wir auf keinen Fall. Da schaffte es eine Tante, die in Argentinien lebte, Einreisevisa für Paraguay zu bekommen. Wir fuhren mit dem Schiff über Hongkong, Manila, Kuan, Honolulu nach San Francisco, wo wir ein Flugzeug nahmen: Puerto Rico, Belém, Rio de Janeiro. Zwei Tage später war ich in der ARI bei Rabbiner Dr. Lemle, und bewarb mich als Kantor. Dort bekam ich einen Vertrag und der Aufenthalt wurde geregelt.“ Josef Aronsohn, 1918 in Tost Oberschlesien geboren, hat in der Gemeinde die bekannten und feinausgearbeiteten Melodien und Gesänge der deutsch-jüdischen Liturgie ausgeführt und unzähligen Generationen das Lesen von der Torah zu Bar-Mitzwah gelehrt.

Meine Freunde, ab jetzt auch Eure Freunde, haben uns heute von sich erzählt. Lechaim gewinnt in diesem Kontext eine sehr prägnante und aufrichtende Bedeutung. Lechaim ist weit mehr als ein Anstoss-Spruch. Lechaim ist das Leben! Unsere Freunde haben, wenn nicht einzeln, so doch als Gemeinschaft, den Tod ins Gesicht geschaut. Sie haben trotz allem, was sie durchmachen mussten, ihre Leben weitergeführt, ihre Synagogen in der neuen Heimat oder vielleicht erst der Heimat ihrer Kinder oder Enkelkinder erbaut, ihre Friedhöfe eingeweiht, Menschen gerettet und ihnen Würde gegeben. Und immer dabei, als gestandene Zeugen von all dem, sind viele Objekte, die hoffentlich auch in den nächsten hunderten Jahren diese bewegenden Geschichten erleuchten lassen. 

Lechaim!