Die Nacht der gebrochenen Herzen und der zerbrochenen Gläser

von Charles Steiman
Vortrag an der Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht, der Nacht der zerbrochenen Gläser
an der ARI am 9. November 2022

Die Boemestrasse-Synagoge in Frankfurt am Main wird in der Nacht zum 10.November 1938 niedergebrannt

Erst ab dem 19. Jahrhundert genossen Juden in einigen Herzogtümern und Fürstentümern, die den Bund Deutscher Nationen bildeten, Bürgerrechte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte Napoleon Bonaparte in diesem Staatenkonglomerat in den von ihm eroberten Gebieten eine Reihe gleicher Rechte für alle ein, die mit der deutschen Einigung 1871 beibehalten und 1918 mit der Weimarer Republik ratifiziert wurden.

Um die Denkweise und Mentalität vieler in Deutschland lebender Juden und den Prozess zu verstehen, der in der Reichspogromnacht (Kristallnacht) gipfelte, ist es wichtig, einige Konzepte über die Lebensweise in Deutschland zu erläutern und Ereignisse der ARI-Gemeinschaft und ihrer Mitglieder zu rekapitulieren und diese in Bezug zu historischen Ereignissen zusetzen.

Die Zugehörigkeit zu einer Nation hatte für die Juden im 19. und frühen 20. Jahrhundert viele Vorteile. Die starke Identifikation mit Aschkenas, dem hebräischen Namen für die Region Mitteleuropas, in der sich heute Deutschland und die umliegenden Gebiete befinden, war nicht umsonst. Als Bürger dieser neu entstehenden Nation konnten Juden ihre Existenz als Minderheit in einem nationalen Territorium regeln: begierig auf Bürgerrechte, Sicherheit der körperlichen Unversehrtheit und die Möglichkeit einer friedlichen Existenz.

Dies war damals nicht offensichtlich oder selbstverständlich, wie es heute für uns in der heutigen Welt, wie hier in Brasilien, der Fall ist. Wir alle haben eine Geburtsurkunde, manchmal sogar zwei. Wir erhalten Dokumente, wir haben das Recht auf den bürokratischen Apparat, auf die Justiz, wir sind brasilianische Staatsbürger, wir erhalten einen Reisepass, unabhängig von unserem Glauben. Wir bekennen unseren Glauben privat, wir zahlen monatliche Beiträge an eine Synagoge, einen Verein und ermöglichen so unseren Rabbinern, Kantoren, Feiern, dieser Veranstaltung! Und vor allem haben wir den modernen Staat Israel. Die moderne jüdische Nationalheimat: eine neue Tatsache der Nachkriegszeit.

Diese Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft erforderte eine tiefe Integration in die neue nationale Situation. Dies war jedoch nicht beispiellos, da diese Bewegung bereits im mittelalterlichen Spanien und in jüdischen Gemeinden im Nahen Osten bekannt war. 

diese Bewegung beide Seiten bereichert: Die deutsche Gesellschaft wurde durch die ethnische und konfessionelle Vielfalt in ihrem Land bereichert, und auch die Juden konnten im 20. Jahrhundert ein einzigartiges soziales und kulturelles Niveau erreichen

Die spirituelle Verbindung mit Zion, Jerusalem, würde durch den Erwerb einer starken nationalen Identität: Sprache, Nationalhelden, Kultur, Musik, nicht schwächer werden oder brechen. Ich wage zu behaupten, dass diese Bewegung beide Seiten bereichert: Die deutsche Gesellschaft wurde durch die ethnische und konfessionelle Vielfalt in ihrem Land bereichert, und auch die Juden konnten im 20. Jahrhundert ein einzigartiges soziales und kulturelles Niveau erreichen.

Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass diese Generation von Juden am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa immer noch die psychischen Spuren der mittelalterlichen Judenverfolgung und der daraus resultierenden existenziellen Instabilität aufwies, insbesondere weil sie sich in demselben Schauplatz befanden. Vor nicht allzu langer Zeit hatten ihre Eltern oder bestenfalls ihre Grosseltern Ghettos oder restriktive jüdische Viertel verlassen und sprachen noch immer Jüdisch-deutsch oder sogar Jiddisch.

Die Möglichkeit einer umfassenden, Bürgerrechte schützenden nationalen Identität war eine willkommene Alternative. Sie waren Deutsche mosaischen oder israelitischen Glaubens. Der Einsatz deutscher Juden im Ersten Weltkrieg war vielleicht das letzte und größte Beispiel dieser Haltung.

Zu dieser Zugehörigkeit gehört auch, dass man Pflichten und Verpflichtungen gegenüber dem Staat hat: deutsche Staatsbürger waren und sind bis heute „meldepflichtig“, verpflichtet, sich bei ihrem Rathaus zu melden, wozu neben ihrem Namen auch ihre Personalien und ihre Anschrift, auch ihre Glaubensgemeinschaft gehören. Und wenn man Ihre Adresse oder ebenfalls Stadt ändert, muss dort benachrichtigt werden. Diese Registrierung bindet einen an diese Stadt und ihre sozialen und steuerlichen Verpflichtungen.

Die Trennung des Staates von der Kirche in der Weimarer Republik, also der politischen von der geistlichen Zugehörigkeit, zielte zumindest seitens des Staates auf die Gleichstellung der Religionskonfessionen ab. Der Bürger teilt der Regierung mit, welcher Glaubensgemeinschaft er angehört, und von seinem Gehalt oder Bruttoverdienst wird ein Prozentsatz in einen Fonds eingesammelt und an seine Glaubensgemeinschaft weitergeleitet. Mit diesem Betrag konnten Tempel, Gehälter für Geistliche, Friedhöfe, Wohlfahrtseinrichtungen und Lehrer finanziert werden. Dies trat in Deutschland ab 1918 für Katholiken, Lutheraner und Juden in Kraft.

Die Verbindung zum Staat war geregelt, stark, transparent und egalitär. Dies galt auch für Krankenkassen und Pensionskassen. Sie delegieren Ihre Sozialversicherung an den Staat und profitieren von diesem System. Diese Erklärung ist für mich der Schlüssel zu einer toleranteren und großzügigeren Vision gegenüber den vielen Männern und Frauen, die ihr Leben auf dieser Beziehung des Vertrauens und der gegenseitigen Abhängigkeit gründeten. Heute können wir diese Generation nicht als selbstgefällig, passiv oder freizügig beurteilen. Sie waren die Opfer! Das muss immer ganz klar sein.

Pakte werden von Parteien unterzeichnet, die sich auf einer bestimmten Ebene sympathisch finden. Verträge nicht unbedingt. Wir haben einen Pakt mit Gott, keinen Vertrag

Und was hat das heute Abend direkt mit uns hier zu tun? Warum erinnern wir uns an diese Nacht im Kontext dieser Synagoge? Denn das Gesetz reicht nicht aus, um unsere Integrität, unsere Sicherheit, unseren Frieden, unsere Stärke zu gewährleisten. Das nationalsozialistische Regime, das zwischen 1933 und 1945 errichtet wurde, hatte sein Gütesiegel im Gesetz. Aber nicht in der Ethik. Als Juden haben wir die Pflicht, die Ereignisse der Geschichte und des Lebens zusätzlich zur rechtlichen auch aus ethischer Sicht zu bewerten. Wir sind kein Volk von Verträgen, sondern von Pakten. Pakte gehen tiefer, basieren auf ethischen Grundlagen und ermöglichen Anpassungen und Korrekturen. Pakte werden von Parteien unterzeichnet, die sich auf einer bestimmten Ebene sympathisch finden. Verträge nicht unbedingt. Wir haben einen Pakt mit Gott, keinen Vertrag.

Im 20. Jahrhundert brach Nazi-Deutschland seinen Vertrag mit dem jüdischen Volk. Und in dieser Nacht des 9. November wurde Aufhebungsvertrag verkündet.

Ich recherchiere das Leben und Werk von Rabbiner Dr. Lemle und Biografien, die sich um ihn drehen. Dr. Lemle gehörte zur letzten Generation deutscher Rabbiner, die dieser Generation dabei halfen, durch diesen Sturm unserer Geschichte zu navigieren. In einem seiner Texte betont er, dass die vielleicht schwierigste Aufgabe seiner rabbinischen Arbeit in Frankfurt am Main zwischen 1934 und 1938 darin bestand, die Eltern davon zu überzeugen, dass ihre Kinder in diesem Land keine Zukunft haben würden, dass sie dort keine Universitätslaufbahn einschlagen würden , würden weder Ärzte noch Anwälte werden, und das Beste wäre, ihnen die Möglichkeit zu geben, einen Beruf zu erlernen, damit sie auf die Einwanderung vorbereitet wären, sei es nach Palästina oder anderswo. Er musste diese Eltern davon überzeugen, dass der einzig mögliche Weg darin bestand, sich von ihren Kindern zu trennen und in die Auswanderungsbemühungen der Gemeinschaft zu investieren.

Auf Dr. Lemles eigenem Weg ist die Verengung des Lebens der Menschen zu beobachten, die in der Reichspogromnacht ihren Höhepunkt finden wird. Und als ich mir seine Geschichte ansah, fand ich einige Antworten auf eine Frage, die mich sehr faszinierte: Warum in der Bundeshauptstadt Rio de Janeiro die ARI die letzte der deutsch-jüdischen Gemeinden war, die gegründet wurde, wenn Rio doch den Hafen mit dem grösseren Zustrom von Einwanderern und eine bereits etablierte und erfolgreiche jüdische Gemeinde hatte? SIBRA in Porto Alegre wurde 1934, CIP in São Paulo 1936 und União in Rio 1937 gegründet.

Im Laufe der Jahre wurde immer wieder bestätigt, dass die ARI nur von Brasilianern und mit der Ankunft von Dr. Lemle in Rio gegründet werden konnte. Tatsächlich ist die Geschichte der Gründung der ARI, anders als die der CIP und der SIBRA, direkt mit der Reichspogromnacht verbunden. In Rio trafen sich bereits Anfang der 1930er Jahre Juden deutscher Herkunft. 1933 formalisierten sie diese Interessengruppe mit der Gründung des Centro33. Dies kann als Meilenstein der Einwanderung deutscher Juden nach Brasilien angesehen werden. 

Es ist wichtig, einige Fakten hervorzuheben, die sich in Deutschland und Brasilien nach dem Aufstieg der nationalsozialistischen Regierung ereigneten:

  • 30. Januar 1933: Der Reichspräsident Hindenburg ernennt Hitler zum Reichskanzler.
  • 1. April 1933: Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verhängte die Reichsregierung ein Berufsverbot für jüdische und regimekritische Beamte. Nach einer Intervention des Reichspräsidenten Hindenburg wurden Juden, die am Ersten Weltkrieg teilnahmen, vom Berufsverbot ausgenommen. An diesem Tag kam es in ganz Deutschland zum Boykott jüdischer Einrichtungen. Am selben Tag übernahm Dr. Lemle die Kanzel in der Gemeinde Mannheim.
  • April 1933: „Gewiss erfüllen uns gerade in letzter Zeit deutlich erkennbare antisemitische Zielsetzungen aus den verschiedensten Wirtschafts- und Lebensgebieten mit schwerer Sorge. Ihre Bekämpfung sieht der Centralverein nach wie vor als eine innerdeutsche Angelegenheit an. Wir sind aber überzeugt, dass die Gleichberechtigung der deutschen Juden, die sie sich in Krieg und Frieden durch Hergabe von Blut und Gut auch innerlich verdient haben, nicht wieder aufgegeben wird, und dass sie wie bisher, unlösbar verbunden mit dem deutschen Vaterlande, mit allen anderen Deutschen guten Willens am Aufstieg des Vaterlandes werden mitarbeiten können.“ (Mitteilungsblatt des Landesverbandes israelitischer Religionsgemeinden Hessens, 8. Jahrgang, Nr. 4, April 1933, S.2)
  • 10. Mai 1933: Das Deutsche Studentenwerk organisiert Bücherverbrennungen von Werken oppositioneller und jüdischer Autoren. Mehrere Bibliotheken werden in den folgenden Tagen geleert („gereinigt“), insbesondere in Universitätsstädten.
  • 14. Juli 1933: Die Reichsregierung verbietet die Gründung von Parteien. Das „Erbkrankheitspräventionsgesetz“, das die Zwangssterilisation von Menschen mit sogenannten „Erbkrankheiten“ erlaubt, wird verabschiedet.
  • 4. Oktober 1933: Mit dem Verlegergesetz wird die gesamte Presse in Deutschland „gleichgeschaltet“ und dient ausschließlich den Interessen der NSDAP.
  • 2. August 1934: Reichspräsident Hindenburg stirbt im Alter von 86 Jahren. Hitler übernimmt nun auch die Rolle des Reichspräsidenten und proklamiert sich fortan als „Führer“ und „Reichskanzler“. Von nun an ist die Wehrmacht nicht mehr der Verfassung verpflichtet, sondern Hitler selbst.

Dr. Lemle wurde im Juni 1934 von der Synagoge in der Westendstrasse in Frankfurt am Main, eine der angesehensten in Deutschland, als Rabbiner für die Jugend eingestellt und bereits 1935 offiziell seinen beiden ältesten Kollegen gleichgesetzt. Er übernimmt auch Gottesdienste in den verschiedenen liberalen Synagogen, engagiert sich aber weiterhin zunehmend in der Jugendarbeit. 1935 veröffentlichte er sein Buch „Jüdische Jugend in Bewegung. Ein Wort an alle“, eine Version einer Rede vor den drei B’nai Brith-Logen in Frankfurt am Main. (J. Kauffmann Verlag, Frankfurt am Main, gedruckt von M. Lehrberger & Co.). In dem 1978 veröffentlichten Buch zum Gedenken an Dr. Lemle stellt sein in Chile verbannter Zeitgenosse und Landsmann Rabbi Egon Loewenstein-Levy fest, dass dieses Buch „den Satz enthält, der für Dr. Lemles Leben charakteristisch war: ‚Menschen reifen in Beziehungen‘, Beziehungen zu Gott, zum Volk Israel, zu Ihrer Gemeinde und zu den Menschen, die Teil Ihres Lebensweges sind.“

  • 31. März 1935: Jüdischen Musikern ist die öffentliche Ausübung ihres Berufs verboten.
  • 2. April 1935: Im Mitteilungsblatt des Landesverbandes Jüdischer Kultusgemeinden in Hessen, Nr. 8, April 1935, Band 9, Seite 83, Artikel: Pessach 5675: „Geschichte nicht als blosse Erinnerung, Geschichte Ort ewig neuer Bestätigung. Völker vor unserem Volk erfuhren ihren Gott in der Natur, in ihr allein. Völker nach unserem Volke erfahren ihren Gott in der Natur. Judenvolk erfährt seinen Gott immer wieder in der Geschichte. Wann immer Geschichte an dieses Volk herantritt, dann erfährt es seinen Gott. Und immer wieder ist es derselbe Gott, der ihm zugeeignet ward im Erleben der ersten Grundtat seiner Geschichte; -in der Tat am Schilfmeer. Darum kann für den Juden Geschichte ihren herbsten Zug verlieren; sie ist nimmer verschwistert dem Tode. Dem Juden allein ist Geschichte am ende nicht Tod, sondern ewige Bestätigung.“
  • 10. September 1935: Auf dem Reichsparteitag verkündet Hitler die „Nürnberger Gesetze“. Diskriminierung von Juden ist nun aufgrund biologischer Kriterien legal.

In Brasilien nahm nicht nur die Zahl der Einwanderer enorm zu, auch ihr Profil unterschied sich aufgrund der Umstände in Deutschland völlig von den bereits etablierten Gemeinschaften in Osteuropa: Die assimilierten und gebildeten Deutschen kamen mit anderen Ambitionen und Lebensgeschichten an. Deutsche Juden organisierten sich daraufhin in einem eigenen Hilfsverein. In Rio de Janeiro hielten deutsch-jüdische Einwanderer 1936 den ersten Rosch-Haschana-Gottesdienst im liberalen Ritus ab, mit 20 Teilnehmern, ohne Sefer Tora und ohne Schofar. Zehn Tage später, an Jom Kippur, sind es bereits 40 Teilnehmer.

In Frankfurt bereiteten sich die Lemles ab 1937 auf die Auswanderung vor – sie wussten nur nicht wie und wohin. Margot Lemle berichtet in ihren Memoiren: „1937 unternahmen wir eine Sondierungssreise nach Palästina. Wir waren daran interessiert, dorthin auszuwandern. In Frankfurt hatte der teilweise Exodus aus dieser berühmten und gut integrierten jüdischen Gemeinde bereits begonnen. Dann erfuhren wir, dass in Palästina ein Rabbiner, der mit der liberalen Bewegung verbunden war, keine Chance hatte zu arbeiten: Die Orthodoxie verhinderte jeden Versuch, diese Bewegung umzusetzen. Und weil Heiner ein überzeugter Rabbiner war und sich zutiefst dazu berufen fühlte, die Arbeit zu tun, an die er glaubte, entschieden wir uns, keine Alija zu unternehmen.“

  • 1.Januar 1938: Jüdischen Kultur-, Religions- und Sozialvereinen wird der Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts und von Versorgungsunternehmen entzogen. Dadurch verändert sich das Verhältnis der Juden zum Staat durch ihr religiöses Bekenntnis nachhaltig. Im März 1938 warnte das Gemeindeblatt Frankfurt am Main ganzseitig vor dieser Veränderung und ihren Auswirkungen auf das Alltagsleben. Und es endet mit einem Appell: „Unverändert werden die jüdischen Kultusvereinigungen und ihre Verbände als privatrechtliche Körperschaften sich weiterhin ihrer Aufgabe der kulturellen und sozialen Betreuung ihrer Mitglieder widmen. Unverändert besteht die rechtliche und sittliche Pflicht jedes Gemeindemitgliedes, durch finanzielle Leistungen und durch Teilnahme am Gemeindeleben wirtschaftlich und moralisch der Gemeinde und den Einrichtungen der jüdischen Gemeinschaft zu dienen.“
  • Februar 1938: “Ein erheblicher Teil der in ihrer Zusammensetzung stark überalterten Judenheit in Deutschland ist auswanderungsunfähig und wird seine Tage in Deutschland beschliessen müssen. Soll er nicht der öffentlichen Wohlfahrt anheimfallen, so dürfen ihm die Erwerbswege nicht völlig verschlossen werden. Auch die Fortsetzung geordneter Auswanderung – und nur diese hält die Einwanderungstore auf die Dauer offen – ist nur möglich, wenn die wirtschaftliche Existenzfähigkeit der Juden in Deutschland nicht noch weiter geschmälert wird. Nachdem die Juden aus den staatlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Stellungen ausgeschaltet sind, bitten wir deshalb die Reichsregierung, dass der Verringerung der Erwerbsmöglichkeit für die Judenheit in Deutschland Einhalt getan werde. Wir hoffen ferner, dass die Möglichkeit des persönlichen Verkehrs zwischen den Ausgewanderten und ihren Angehörigen, die in Deutschland zurückbleiben müssen, nicht unterbunden wird.”
  • 13. März 1938: Hitler erlässt das Gesetz zum „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich. Staatliche Institutionen in Österreich werden von den deutschen Behörden übernommen.
  • 6. August 1938: Dr. Lemle erhält in Frankfurt folgendes Telegramm: „Bestätigen Ihre Berufung Rabbiner 2 Jahresvertrag folgt Luftpost erwarten baldigstes Eintreffen mit Familie.“ Dieses Telegramm ist das Ergebnis der im Protokoll der CIP-Vorstandssitzung am 1. August 1938 in São Paulo enthaltenen Entscheidung über seine Einstellung: „Dr. Lorch bestätigt zwei Briefe von ihm [von Dr. Lemle], die an ihn und Dr. Pinkus gerichtet sind. Um ein Einwanderungsvisum zu erhalten, benötigt Dr. Lemle einen Arbeitsvertrag. Es wird beschlossen, den oben genannten Vertrag an Dr. Lemle zu senden und gemäss unserem Beschluss ihn zu verpflichten, sowohl in Rio de Janeiro als auch in São Paulo tätig zu sein.“

Die Gemeinschaft der deutschen Juden in Rio de Janeiro wusste bereits seit den Hohen Feiertagen, dass sie bald einen Rabbiner haben würde: „(…) An den Vorabenden der Feste brachte Dr. Loebl die Gefühle der Gemeinschaft in beredten Worten zum Ausdruck. Er sprach am Rosch Haschonoh-Abend über die Stimmung der aus der alten Heimat nach Brasilien Gekommenen, die das Bedürfnis haben, an diesem Tag zusammen zu beten und in denen noch die Beziehungen zu frühen wach sind und nachklingen. Am Kol Nidre-Abend sprach er über das Menschliche in der jüdischen Religion, das das Einzelwesen unmittelbar vor seinen Gott treten lässt und verlas einen Gruss des für die künftige Gemeinde Rio Bestimmten Rabbiners Dr. Lemle.“ (Crônica Israelita, 4. Oktober 1938, SP: Rio de Janeiro)

  • 5. Oktober 1938: Reisepässe von Juden werden nun mit dem Grossbuchstaben „J“ versehen.
  • 28. Oktober 1938: Die Bundesregierung deportiert 15.000 polnische Juden oder Juden polnischer Herkunft. Sie werden zwangsweise nach Polen abgeschoben.
  • Nacht des 9. November 1938: In der Reichspogromnacht werden Synagogen zerstört und niedergebrannt, jüdische Häuser und Gewerbebetriebe gesteinigt und zerstört, Menschen verunglimpft und angegriffen. Dr. Lemle sollte am Freitag, den 11. November, in der Grossen Synagoge in der Westendstraße sprechen. Aber niemand kann ihn hören. Er wurde wie 30.000 andere jüdische Männer am Donnerstagmorgen, dem 10. November, verhaftet.

Dr. Lemle wird erst am Freitag, dem 4. April 1941, in Rio de Janeiro im Grande Templo Israelita in der Rua Tenente Possolo wieder als wirklich freier Mann sprechen. Und als Rabbiner seiner eigenen Synagoge, die seine liberale Tradition, seine gemeinschaftlichen Ambitionen und seine spirituellen Überzeugungen widerspiegelte, erst mit der Gründung von ARI am 13. Januar 1942.

Einige Zeugnisse, die in der Gedenknacht verlesen wurden