Die Lektüre des Parascha Pinchas in dieser Woche machte mich auf die moralische und sachliche Dualität unseres Urteils aufmerksam: Pinchas wird für einen Mord mit der Ehre des ewigen Priestertums für seine Familie belohnt. In der heutigen Welt können wir uns mit dieser Tatsache nicht identifizieren. Die Töchter von Tzelofchad profitieren vom Erbe ihres Vaters. Sie suchen Moses, der Gott um Rat bittet. Und Gott findet es gerecht, dass sie das Erbe erhalten, wenn kein männlicher Erbe vorhanden ist. Damit hat Gott dieses Gesetz geschaffen, mit dem wir uns heute sehr gut identifizieren können.
Ein Zeichen dafür, dass unsere Herangehensweise an den Text der Thora an unsere Zeit und unseren Raum gebunden ist. Ein Jude, der diese Parascha im Jahr 230 in einer geschlossenen und machohaften Kultur las, hätte vielleicht das Gegenteil von dem gedacht, was wir heute hier denken: Die Rechte der Töchter von Tzelofchad sind eine Beleidigung und Pinchas Fehlverhalten wurde hinweggesehen.
Gerätselt schlug ich die Haftarah nach. Die Haftarah wird normalerweise von einem Propheten verfasst und schliesst die Parascha der Woche ab, entweder durch eine explizite Schlussfolgerung oder einfach durch die Erwähnung des einen oder anderen Wortes, das sich auf den Text bezieht. Für diese Parascha gibt es die Anweisung, dass wir, wenn wir Pinchas nach dem 17. Des hebräischen Monats Tammus lesen, die Haftarah aus dem Buch Jeremia (1:1-2:3) lesen sollten. Am 17. Tammus fallen die Babylonier in das Königreich Jehudah ein und belagern Jerusalem. Dann durchbrechen sie die Stadtmauern und zerstören am 9. des hebräischen Monats Av (Tisha B’Av) den Ersten Tempel und beginnen mit der grossen Verbannung der Israeliten.
Jeremia ist der Prophet, der diese grosse Tragödie ankündigt, die dem Volk bevorsteht. Oder besser gesagt, das Wort Gottes wird durch den Mund des Propheten manifestiert. Aus diesem Grund wird Jeremia, wie in seinem Buch beschrieben, auch zur Persona non grata unter der Elite Jerusalems. Jeremia, das an diesem Schabbat gelesen wird, ist ein zeitlicher/historischer Meilenstein: Zur Zeit Jeremias fiel das Babylonische Reich in Jerusalem ein. Er beschreibt die Ereignisse, zieht Parallelen zwischen Ursache und Wirkung, gibt dem Leser einen allgemeinen Plan darüber, was in dieser Region geschah und was kommen würde, und hilft zu verstehen, was dort zu dieser Zeit stattfand. Und es ist auch ein Meilenstein der Erinnerung: Jenseits der Tatsachen werden sowohl die Person Jeremias als auch die Vulnerabilität der Menschen in Möglichkeiten der Reproduktion und vielfältigen Erfahrungen dekantiert. Die Tatsache, dass der Erste und der Zweite Tempel am selben Tag zerstört wurden, ist nicht einfach ein Fakt, sondern ein Instrument der Erinnerungskultur.
Der Prophet ist kein Wahrsager und verfügt auch nicht über magische oder vorausschauende Kräfte. In der jüdischen Tradition wird der Prophet von der Manifestation des Einen und Abstrakten Gottes inspiriert oder beeinflusst. Angesichts der moralischen Schwäche des Volkes Israel, seiner Distanz zum Bund mit dem Einen und Abstrakten Gott, geht Jeremia zu ihnen und möchte sie durch Worte auf den Weg des Einen und Abstrakten Gottes zurückführen. Jeremias Worte hier sind mehr als ein göttliches Einschreiten, sie zielen darauf ab, die Menschen „aufzurütteln“, was an eine scharfe psychologische Intervention grenzt.
In Jeremia 7 lesen wir: «Gewahrst du nicht, was sie verüben in den Städten Jehudahs und auf den Strassen Jeruschalajims? Die Söhne sammeln Holz und die Väter zünden die Feuer an, und die Frauen kneten Teig, Kuchen zu bereiten für die Königin des Himmels und Trankopfer zu spenden anderen Göttern, um mich zu kränken. Kränken sie mich, Ausspruch des Ewigen, und nicht sich selbst, zu ihrer eig’nen Schande?»
Später in Jeremia 9: „Und sie spannen ihre Zunge wie ihren Bogen, Lüge und nicht Wahrheit herrscht im Lande; fürwahr, von Bosheit zu Bosheit schreiten sie, mich aber kennen sie nicht. Ausspruch des Ewigen. Vor seinem Freunde hüte sich jeder, und trauet keinem Bruder; denn jeder Bruder geht mit Hinterlist und jeder Freund als Verleumder umher.“
Und in Jeremia 9:24 klingen die Worte wie ein Urteilspruch: „Siehe, Tage kommen, Ausspruch des Ewigen, da ich zur Rechenschaft ziehe alle an der Vorhaut Beschnittenen… denn alle Völker sind unbeschnitten und das ganze Haus Jisrael unbeschnittenen Herzens.»
In dem Geist, den uns die nächsten drei Wochen bis zum 9. Av auferlegen, und basierend auf dem langjährigen Gedanken- und Erfahrungsaustausch mit Freunden, Bekannten und Verwandten, die in Israel leben, ist es unvermeidlich, Parallelen zwischen heute und dem, was Jeremiah uns erzählt hat, zu ziehen. Nicht die Fakten selbst, sondern im Rahmen der Erinnerungskultur. Als wir am 7. Oktober angegriffen wurden, konnten wir alle (von nah und fern) auf eine Reihe sensorischer, emotionaler, erblicher und umstandsbezogener Elemente zugreifen. Seit dem 6. Jahrhundert v.u.Z., zur Zeit Jeremias, wissen und spüren wir, wie es ist, überfallen zu werden und unsere Menschen aus ihren Häusern in feindliches Gebiet gerissen zu sehen.
Man kann Menschen töten, aber nicht den Gott, der in ihnen lebt. Man kann ein Volk bezwingen, doch nie seinen Geist
Mitten im Ersten Weltkrieg, als er in der österreichischen Armee diente, festigte der österreichische Jude Stefan Zweig, der meistgelesene Schriftsteller in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, unbestreitbar seine pazifistische Haltung. Und er wird Inspiration und Ausdruck vom Propheten Jeremia suchen, mit seinem Theaterskript „Jeremia, eine dramatische Dichtung in neun Bildern“, das zwischen 1915 und 1917 geschrieben und am 27. Februar 1918 im Stadtspielhaus Zürich uraufgeführt wurde.
Das Theaterstück „Jeremias“ schildert anhand von Texten aus dem Buch des Propheten den moralischen und ethischen Verfall, in dem sich die Menschen damals befanden. Es ist jedoch kein deprimierendes Werk. Sowohl im Theaterstück als auch im Buch des Propheten macht Jeremia deutlich, dass Gott sein Volk beschützen und es erlösen wird, wenn es den Weg der Rückkehr zu Seinen Geboten und Lehren einschlägt, und es in das Land zurückführen wird, das Er seinen Vorfahren gegeben hat. Stefan Zweigs Stück endet mit dem inspirierenden Satz: „Man kann Menschen töten, aber nicht den Gott, der in ihnen lebt. Man kann ein Volk bezwingen, doch nie seinen Geist.“
Unsere Generation und die letzten zwei oder drei geniessen gleichzeitig das historische Privileg des Gelobten Landes und die umständliche Last des Exils, der «Diaspora». Das Gewissensdrama, das mit der Wiederherstellung Israels entstand, nicht mehr ein ideales und fernes Land, sondern ein moderner und blühender Staat, könnte dazu geführt haben, dass unsere menschliche Fähigkeit, mit dem Paradoxon umzugehen, ausgefranst ist. Der Antrieb der Chalutzim (Pioniere) oder die Dringlichkeit von Holokaust-Überlebenden oder Flüchtlingen aus arabischen Ländern hielten das Projekt „Israel“ jahrzehntelang aufrecht. Und jetzt? Ist Israel die Heimat der Juden und der Jüdinnen des 21. Jahrhunderts? Spiegelt Israel unsere Sehnsüchte wider? Wer prägt dieses Land, das immer weniger historisch und gelobt und immer moderner und verlobter ist?
In Stefan Zweigs Autobiografie „Die Welt von Gestern“ aus dem Jahr 1942 findet der rumänisch-brasilianische Journalist, Schriftsteller und Übersetzer Nelson Vainer (1910-1997) die richtigen Worte für das von ihm zum Gedenken an den fünfzigsten Todestag von Theodor Herzl herausgegebene Buch, das 1954 von der Zionistischen Weltorganisation in Rio de Janeiro veröffentlicht. Seine Wahl war keineswegs zufällig. Stefan Zweig schreibt:
„So veröffentlichte er seine Broschüre ›Der Judenstaat‹, in der er proklamierte, alle assimilatorische Angleichung, alle Hoffnung auf totale Toleranz sei für das jüdische Volk unmöglich. Es müsse eine neue, eine eigene Heimat gründen in seiner alten Heimat Palästina. Ich saß, als diese knappe, aber mit der Durchschlagskraft eines stählernen Bolzens versehene Broschüre erschien, noch im Gymnasium, kann mich aber der allgemeinen Verblüffung und Verärgerung der Wiener bürgerlich-jüdischen Kreise wohl erinnern. Was ist, sagten sie unwirsch, in diesen sonst so gescheiten, witzigen und kultivierten Schriftsteller gefahren? Was treibt und schreibt er für Narrheiten? Warum sollen wir nach Palästina? Unsere Sprache ist deutsch und nicht hebräisch, unsere Heimat das schöne Österreich. Geht es uns nicht vortrefflich unter dem guten Kaiser Franz Joseph? Haben wir nicht unser anständiges Fortkommen, unsere gesicherte Stellung? Sind wir nicht gleichberechtigte Staatsangehörige, nicht eingesessene und treue Bürger dieses geliebten Wiens? Und leben wir nicht in einer fortschrittlichen Zeit, welche alle konfessionellen Vorurteile in ein paar Jahrzehnten beseitigen wird? Warum gibt er, der doch als Jude spricht und dem Judentum helfen will, unseren bösesten Feinden Argumente in die Hand und versucht uns zu sondern, da doch jeder Tag uns näher und inniger der deutschen Welt verbindet? Die Rabbiner ereiferten sich von den Kanzeln, der Leiter der ›Neuen Freien Presse‹ verbot, das Wort Zionismus in seiner ›fortschrittlichen‹ Zeitung auch nur zu erwähnen.“
Stefan Zweig findet treffende und versöhnliche Worte für Herzl: „Im ersten Augenblick konnte Herzl sich mißverstanden fühlen; Wien, wo er sich durch seine jahrelange Beliebtheit am sichersten vermeinte, verließ und verlachte ihn sogar. Aber dann dröhnte Antwort mit solcher Wucht und Ekstase so plötzlich zurück, daß er beinahe erschrak, eine wie mächtige, ihn weit überwachsende Bewegung er mit seinen paar Dutzend Seiten in die Welt gerufen. Sie kam freilich nicht von den behaglich lebenden, wohlsituierten bürgerlichen Juden des Westens, sondern von den riesigen Massen des Ostens, von dem galizischen, dem polnischen, dem russischen Ghettoproletariat. Ohne es zu ahnen, hatte Herzl mit seiner Broschüre den unter der Asche der Fremde glühenden Kern des Judentums zum Aufflammen gebracht, den tausendjährigen messianischen Traum der in den heiligen Büchern bekräftigten Verheißung der Rückkehr ins Gelobte Land – diese Hoffnung und zugleich religiöse Gewissheit, welche einzig jenen getretenen und geknechteten Millionen das Leben noch sinnvoll machte.“
Das Vorwort der Veröffentlichung endet damit, dass Zweig seine Bewunderung für Herzl und seine Vertrautheit mit dem Judentum zum Ausdruck bringt: „Immer, wenn einer – Prophet oder Betrüger – in den zweitausend Jahren des Golus (Diaspora) an diese Saite gerührt, war die ganze Seele des Volkes in Schwingung gekommen, nie aber so gewaltig wie diesmal, nie mit solchem brausenden, rauschenden Widerhall. Mit ein paar Dutzend Seiten hatte ein einzelner Mann eine verstreute, verzwistete Masse zur Einheit geformt.“
Und ich frage mich in diesen drei Wochen, in denen wir so verletzlich sind, erneut: Was nun? Ist Israel die Heimat der Juden und Jüdinnen des 21. Jahrhunderts? Spiegelt Israel unsere Wünsche wider? Wer prägt dieses Land, das immer weniger historisch und gelobt, dafür aber immer moderner und verlobter ist? Wie gehen wir mit dem Paradoxon um?