
Die Nacht der zerbrochenen Herzen – Zeugnisse von Zeitzeugen
Margot Lemle z’l
In dieser schrecklichen Nacht des 9. November waren wir sehr angespannt angesichts der Nachricht, was geschehen war. Wir wussten, dass mein Mann, wie alle Frankfurter Juden, in grosser Gefahr schwebte. Als es am nächsten Morgen um 7 Uhr an der Tür klingelte, waren wir schockiert: Zwei SS-Männer in Zivil, mit Waffen in der Hand, kamen herein und riefen: „Machen Sie sich bereit, schnell! Sie dürfen nur einen Koffer mit Kleidung mitnehmen!“ Sie durchsuchten die gesamte Wohnung. Alfred, der auf seinem Bett sass, fragte: „Hast du mir ein Geschenk mitgebracht?“ Einer der Nazis, der etwas menschlicher wirkte, sagte mit leiser Stimme zu mir: „Es tut mir so leid!“
Ernesto Bach z’l
Ich kann nicht genau sagen, wie es zur Kristallnacht kam. Ich war ausserhalb von Berlin gewesen. Für einige Monate wurde ich in einer sächsischen Kleinstadt in einem praktischen Beruf ausgebildet. Da alle dachten, die meisten Deutschen seien nur Akademiker, ging ich, um etwas zu lernen und an einem Webstuhl zu arbeiten. Aber auch die Fabrik, die Juden gehörte, die meiner Mutter bekannt waren, musste arisiert werden und ich war wenige Tage vor der Reichspogromnacht nach Berlin zurückgekehrt. Die Polizei suchte nach den Männern und wusste, wo sie zu finden war, denn alle, nicht nur Juden, mussten sich bei der Polizei melden. Und sie wussten, wo jüdische Männer zu finden waren. Als der Nachmittag kam, sah man Männer mit Rucksäcken und Decken auf der Strasse zu Häusern laufen, wo nur Frauen lebten, um dort zu schlafen, weil es dort nicht durchsucht würde. Das habe ich auch gemacht. Ich hatte mich in Berlin noch nicht gemeldet, daher wusste die Polizei nicht, dass ich dort war. Aber an jene Nacht erinnere ich mich noch sehr gut: Ich ging auf die Strasse und sah, wie Menschen Fenster einschlugen, ich sah die Synagoge brennen. Ich wollte sicher keine Aufmerksamkeit erregen. Zuvor hatten sie mit unglaublicher Bösartigkeit gehandelt: Sie befahlen allen Juden, den Ladenbesitzern, den Namen des Ladenbesitzers in grossen Buchstaben an das Schaufenster zu malen. Jeder wusste also bereits, wo er die Fenster einschlagen musste.
Josef Aronsohn z’l
Bis zu diesem Tag hatten wir einen Laden und alles. Sie haben den Laden kaputt gemacht, die grossen Fenster im Laden eingeschlagen. Stadtmenschen, Volksmenschen, Schmarotzer. Am nächsten Tag, dem 10. November, ging ich wie üblich nach Gleiwitz zum Unterricht im Kantorenseminar. Als ich zurückkam, verhafteten sie mich. Sie verhafteten alle jüdische Männer und brachten uns in das Konzentrationslager Buchenwald. Ich blieb sechs Wochen dort, bis zum 16. Dezember. Ich wurde sehr schlecht behandelt. Sie verletzten mich mit einer Schrotflinte in meiner linken Hand. Nachdem ich dort war, konnte ich nichts mehr schreiben. Dann schrieb ich mit Hilfe meiner rechten Hand. Es war sehr schwierig. Nach zwei, drei Wochen durften wir einen Brief nach Hause schreiben. Der Brief war vorformuliert: „Ich bin im Konzentrationslager, mir geht es gut, mir fehlt nichts.“ Alle mit dem gleichen Text. Als dieser Brief zu Hause ankam, sagte mein Grossvater, der Vater meiner Mutter, der bei ihnen lebte: „Rosa, warum weinst du? Du siehst, er hat alles. Ihm geht es gut, nicht wahr?“ Ich wurde erst freigelassen, nachdem ich eine Verpflichtung unterschrieben hatte, dass ich Deutschland verlassen werde. Ich dachte: „Ich werde eine Möglichkeit zur Auswanderung organisieren.“ Aber als ich aus dem Konzentrationslager zurückkam, wurde mir sofort eine Stelle als Kantor in Gleiwitz angeboten. Ich habe zugesagt und dann geheiratet.
Hans Wilmersdorfer z’l
Nachts wurden alle jüdischen Geschäfte zerstört. Die beiden Synagogen Münchens sind verschwunden. In dieser Nacht wurde die orthodoxe Synagoge in Brand gesteckt. Die andere Synagoge war bereits zuvor abgerissen worden, um einen Platz zu schaffen. Sie drangen auch in jüdische Häuser ein und schlugen sie. Aber das war der Beginn einer offensichtlichen Verfolgungsjagd. Zuvor hatten sie Juden bereits die Ausübung der Medizin und des Rechts verboten. Die Theater waren für uns bereits geschlossen. 1938 wurde mir und meinem Vater klar, dass es das Ende war. Und wir mussten so schnell wie möglich gehen, wenn noch eine Möglichkeit bestand. Ohne Mama hätte Papa Deutschland nicht verlassen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es so weit kommen würde.
Ich wurde in dem Laden verhaftet, den wir noch hatten. Die Polizei brachte mich zur Polizeiwache und dann fuhren wir mit dem LKW nach Dachau. Papa war dumm genug, zur Polizeistation zu gehen, um nach mir zu suchen und einen Koffer mit Kleidung mitzunehmen. Natürlich konnte ich gar keine Kleidung mitnehmen. Und bei dieser Gelegenheit wurde auch Papa verhaftet. Obwohl er Anfang 60 war und nur Juden bis zum Alter von 60 Jahren verhaftet wurden.
Diese Kristallnacht war kein spontanes Ereignis. Alles war schon vorbereitet. Denn in Dachau waren die Baracken für uns fertiggestellt. Ich schätze, dass wir etwa acht- bis neuntausend waren. Ein riesiges, grosses Lager. Jeden Tag starb der eine oder andere. Mehr aufgrund von Krankheit, mehr aufgrund von Stress als aufgrund von Brutalität, die wir auch hatten. Wenig Essen. Sehr wenig Essen. Und ein dummes Regime. Nur um uns zu quälen. Das deutsche Volk wusste selbstverständlich von den Konzentrationslagern!